unterwegs mit agentin x von CORINNA STEGEMANN :
„Fahren Sie nur bis zum Ostbahnhof?“ Die uralte, kleine Dame mit der Gehhilfe hatte mich offensichtlich dabei beobachtet, wie ich mein Kleingeld für das Busticket abzählte und blinzelte mir jetzt verschworen zu. „Äh … – nein“, antwortete ich, „Ich will noch mit der S-Bahn weiter.“ – „Gut“, sprach wieder die uralte, kleine Dame mit der Gehhilfe, „Stecken Sie ihr Geld wieder weg, Sie sind jetzt meine Begleitung.“
Der resolute Tonfall ließ keinen Widerspruch zu, auch war ich etwas überrumpelt, so früh am Morgen, quasi noch im Halbschlaf, sodass ich brav mein Geld wieder einsteckte und der uralten, kleinen Dame mit der Gehhilfe, die ich fortan „Agentin X“ nennen möchte, beinahe willenlos in den Bus folgte.
Agentin X hielt dem Fahrer irgendeinen Zettel hin, deutete vielsagend auf mich, murmelte etwas, das ich nicht verstehen konnte und befahl mir, mich ihr gegenüber hinzusetzen. „Danke schön“, sagte ich, obwohl mir noch nicht ganz klar war, was Agentin X im Schilde führte. Sie ihrerseits kicherte vergnügt und zischte mir zu: „Pssst, nicht so laut, der Busfahrer darf das nicht wissen.“ – „Was darf der nicht wissen?“, fragte ich zurück. „Na, das, was wir hier machen …“ Ich nickte wie in Trance.
„Wir machen es folgendermaßen“, begann nun Agentin X flüsternd ihre Strategie zu erläutern, „Sie steigen eine Station vor mir aus, also am Erich-Steinfurt-Platz und gehen dann unauffällig zur S-Bahn hoch, ich fahre eine Station weiter, also zum Haupteingang und hole die Fahrkarten. Wir treffen uns dann an der S-Bahn. Das heißt, nein, Sie fahren mit zum Haupteingang. Oder besser doch nicht, nein, Sie steigen vorher aus.“
Ich hatte das wundervolle Gefühl, an einer äußerst geheimen, überaus konspirativen Sache beteiligt zu sein, wenn ich auch noch nicht genau wusste, wohin das Ganze führen sollte. Agentin X zwinkerte mir zu und guckte wie ein Fuchs. Sie war eine Rebellin, das war mir inzwischen klar, eine Art Robin Hood, die von den Reichen, also dem Verkehrsunternehmen, nahm, um den Armen, also mir, zu geben.
Jetzt rief sie dem Busfahrer zu: „Meine Begleitung steigt eine Station vor mir aus, Sie fahren aber bitte noch um die Ecke, junger Mann!“ Der Busfahrer guckte irritiert und fragte: „Äh, was?“ – „Der versteht kein Wort“, raunte mir Agentin X abfällig zu, „der ist bestimmt neu.“ Die Haltestelle nahte, der Bus hielt. Agentin X gab mir einen Klaps, zwinkerte abermals und kommandierte halblaut: „Los, raus! Wir treffen uns oben!“ Gern hätte ich noch irgendeinen Code-Satz mit ihr abgesprochen – man weiß ja nie –, aber dazu blieb keine Zeit.
Oben an den S-Bahn-Gleisen wartete ich ein Weilchen. Die erste Bahn fuhr mir weg, auch die zweite – sicher hatte Agentin X gerade noch ein paar Schurken aus dem Weg zu räumen. Heimlich zog ich mir am Automaten schließlich einen Fahrschein, voller Angst, dass Agentin X mich dabei erwischen könnte.
Beschämt muss ich eingestehen, dass ich die dritte S-Bahn dann doch mit ordnungsgemäß abgestempeltem Ticket bestieg. Ich hatte nicht die Nerven, noch länger auf Agentin X zu warten, so ein risikoreiches Leben ist nicht jedermanns Sache. Ich hoffe, Agentin X wird mir diesen Verrat eines Tages verzeihen.