: Sozialismus auf dem Sozius
Guerillero oder Stundenredner? Trainingsanzugträger oder Bürokrat?Warum Fidel Castro sich nicht in Stein meißeln lässt und es trotzdem versucht werden wird. Und warum sich weder der venezolanische Staatsführer Hugo Chávez noch seine lateinamerikanischen KollegInnen als Nachfolger des „Máximo Líder“ eignen
AUS HAVANNA TONI KEPPELER
Mit Fidel Castro geht es langsam zu Ende. Er mag noch ein paar Monate leben, vielleicht sogar ein paar Jahre. Aber selbst wenn er noch einmal aufstehen sollte und zurückkehren an die Macht, er wird nie mehr der Alte sein. Die Wachablösung in Kuba ist schon im Gang – und mit ihr die Erhöhung des „Comandante en Jefe“ zum Säulenheiligen des karibischen Sozialismus.
Ist es also an der Zeit, sich nach einer anderen Projektionsfläche für revolutionäre Träume umzusehen? Soll man in Zukunft lieber nach Venezuela reisen mit seinem deutlich agileren Hugo Chávez? Der wurde ja gerade erst wiedergewählt und bleibt der Welt also noch mindestens sechs, vielleicht sogar zwölf Jahre oder noch länger erhalten. Er strahlt im Glanz des erfolgreichen Widersachers der dunklen Mächte in Washington. Aber nein! Venezuela wird nie ein zweites Kuba sein, Chávez nie ein zweiter Fidel. Die Unterschiede beginnen schon beim Namen: Chávez und Fidel. Den einen nennt man beim Nachnamen, den andern beim Rufnamen. Die Anhänger des einen heißen Chavistas, die des anderen Fidelistas. Zum einen hält man eine gewisse Distanz, mit dem anderen möchte man familiär vertraut sein. Das liegt an Geschichte und Persönlichkeit der beiden Männer.
Castro ist ein weltpolitischer Abenteurer. Einer, der sich in wahnwitzige Unternehmen gestürzt hat und viele Niederlagen einstecken musste: Der gescheiterte Sturm auf die Moncada-Kaserne am 26. Juli 1953 und die anschließende Haft. Die Landung der Jacht „Granma“ am 2. Dezember 1956 nach stürmischer Überfahrt – und am Strand warteten schon die Soldaten des Diktators Fulgencio Batista. Nur ein gutes Dutzend der über 80 Guerilleros konnte sich in die Sierra Maestra durchschlagen. Und doch zogen sie zwei Jahre später siegreich in Havanna ein. Je größer die Niederlage, je tiefer die Krise, desto strahlender ging Fidel Castro am Ende als Sieger hervor. Auch aus der Raketenkrise im Oktober 1962, aus dem Zusammenbruch des Sowjetreichs 1990. Selbst aus der Balsero-Krise von 1994, als sich zehntausende von Kubanern auf Flößen ins Meer stürzten. Und – ganz modern und mediengerecht inszeniert – aus dem Gezerre um das verlorene Flüchtlingskind Elián González in den Jahren 1999 und 2000. Das ist der Stoff, aus dem Identifikationsfiguren gemacht sind.
Und Chávez? Was ist schon ein gescheiterter Militärputsch gegen einen bürgerlichen Präsidenten im Vergleich zu einem echten Guerillakrieg gegen einen US-gestützten Militärdiktator? Was ist ein Wahlsieg gegen die Kandidaten einer abgewirtschafteten Parteienlandschaft im Vergleich zu einer sozialistischen Revolution?
Chávez ist groß, weil er Erdöl hat. Damit bezahlt er die kubanischen Ärzte, die in den Slums von Caracas ihren Dienst am Nächsten tun. Damit finanziert er das billige Brot, das er den Armen zukommen lässt. Damit schafft er sich Freunde in ganz Lateinamerika. Wegen des Öls kann er sich zum Führer einer bolivarischen Befreiung des Halbkontinents aufschwingen. Wegen des Öls wird er in Washington ernst genommen. Ob Chávez immer noch Größe hat, wenn der Weltmarktpreis für Rohöl einmal sinkt? Der Beweis dafür steht noch aus und es ist fraglich, ob er erbracht werden kann. Fidel dagegen war immer dann ganz besonders groß, wenn er nichts mehr hatte außer sich selbst.
Nach ihm wird Kuba ärmer sein, und doch – zumindest zunächst – gar nicht so viel anders als das Kuba von heute. Er hat es geformt. Man wird dort weiterhin unter gebildeten und schönen Menschen sein können (es sind ja beileibe nicht nur die Frauen), bei guter Musik und bestem Rum. Man wird weiterhin im Fonds eines Fünfzigerjahre-Schlittens den Charme der verfallenden Altstadt von Havanna betrachten können und die Schlangen vor den Läden, in denen es knappe Konsumgüter gibt. Und es wird noch immer diesen gewissen Kitzel geben, sich in einem der letzten realsozialistischen Länder zu befinden. Zu den vielen in Souvenirshops erwerbbaren Ché-Devotionalien werden ein paar Andenkenstücke an Fidel kommen und sicher bald auch das eine oder andere Standbild von ihm, vor dem man sich fotografieren lassen kann. Leiblich wird man ihm dann nicht mehr begegnen. Aber das war auch bislang für so gut wie alle Kuba-Besucher nur eine rein theoretische Möglichkeit.
Dafür wird Kubas real existierender Sozialismus nach Fidel Castro noch ein bisschen realer geworden sein. Vizepräsident Carlos Lage hat dies Ende vergangener Woche bei seiner Abschlussrede vor einem zweitägigen Fidel-Kongress schön zusammengefasst: „In Kuba wird es keine Nachfolge geben, sondern Kontinuität. Ein zweiter Fidel wird nicht möglich sein. Niemand wird ihn imitieren, aber viele werden ihm folgen. Es wird keine Spaltung geben unter den kubanischen Revolutionären. Keine persönlichen Ambitionen, Egoismen, Eitelkeiten. Wir werden das nicht erlauben. Wir haben eine Partei.“ Und die Partei hat immer recht.
Was aber ist das Rechte in Kuba? Wie lässt sich ein so widersprüchlicher Mann wie Fidel Castro in eine Ideologie, in orthodoxe Lehrsätze fassen? „Fidel ist viel mehr als ein Mensch“, hat der französische Schauspieler Gérard Depardieu beim selben Kongress gesagt. „Er ist eine große Idee.“ Bloß welche?
Wie soll man in einem Katechismus erklären, dass Fidel erst sagte, er sei ganz bestimmt kein Kommunist, und dann doch der hartnäckigste von allen wurde? Wie soll man verstehen, dass er eine schöne Revolution mit großen sozialen Taten begonnen hat und kurz darauf schon bereit war, alles in einem Atomkrieg aufs Spiel zu setzen? Warum verdammt er noch im Krankenbett die USA als das Reich des Bösen schlechthin und hat trotzdem für ein paar Jahre deren Währung adoptiert? Warum hat er die Kirche jahrzehntelang unterdrückt und dann ausgerechnet den reaktionären Papst Johannes Paul II. zu seinem Freund erklärt? Wie passt es zusammen, dass er das beste und umfassendste Schulsystem Lateinamerikas geschaffen hat und gleichzeitig sein gebildetes Volk mit den langweiligsten und staatsfrömmsten aller Zeitungen beleidigt? Ganz zu schweigen davon, dass er die Kubaner von einer Diktatur befreit hat, um ihnen dann einen Überwachungsstaat zu bescheren. Castro macht es seinen Nachfolgern nicht leicht, seine Lehre in Stein zu meißeln.
Die Kubaner erwarten, dass sich etwas ändert nach Fidel. Seit zwei Generationen erleben sie einen Sozialismus in der Krise. Sie haben genug davon. So gut wie keiner will einen harten Bruch. Aber doch spürbare Schritte hin zu ein bisschen weniger Bürokratie und Bevormundung, ein bisschen mehr Ideenfreiheit und Konsum. Kommunistische Parteien aber neigen in Umbruchzeiten eher dazu, sich an Lenin zu halten: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Was neue Ideen einbringen können, davon kann der Genosse Gorbatschow eine Geschichte erzählen. Also lieber den Deckel noch mehr schließen, als ein bisschen Dampf abzulassen. Sich treu an den Katechismus halten, Augen zu und durch. Aber gerade das ist gefährlich: Ein in Stein gemeißelter Fidel lässt sich viel leichter stürzen als ein lebendiger, flexibler, widersprüchlicher.