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Archiv-Artikel

Hitler er ikke død

HEROINES OF SOUND Konkrete Musik der dänischen Widerstands-kämpferin Else Marie Pade in der Berghain-Kantine

Zuwendungen von Freunden ermöglichten es Pade, gegen den Willen ihrer Eltern das Musikkonservatorium zu besuchen

VON INGO TECHMEIER

Else Marie Pade wurde 1924 in Dänemark geboren und klassisch am Klavier ausgebildet. Sie strebte jedoch keine Laufbahn als Pianistin an. Stattdessen fühlte sie den Drang, ihre eigene innere Klangwelt zu erforschen. Nur wie? Eine Sendung im dänischen Radio gab die Antwort: In ihr präsentierte der Franzose Pierre Schaeffer 1951 seine aus Alltagsgeräuschen bestehenden Kompositionen, die er mit und für das Tonband arrangierte. Musik aus konkreten Klängen: Musique concrète. Pade besuchte Schaeffer im folgenden Jahr und begann anschließend, für den dänischen Rundfunk zu arbeiten und dort ihre musikalischen Ideen umzusetzen.

Else Marie Pade ist also eine ganz frühe Vertreterin ihres Genres und erinnert daran, dass die elektronische Musik zwar überwiegend ein männliches Gesicht hat, aber auch immer weibliche Protagonisten hatte. Das Festival Heroines of Sound widmet sich am 11. und 12. Juni in der Kantine am Berghain elektronischer Musik, die von Frauen gemacht wird. Dabei wird ein Bogen von den 1950er Jahren bis hin zu aktuellen Werken gespannt. Die Vorstellung von Kompositionen der Dänin Else Marie Pade sind ein Höhepunkt der Veranstaltung. Am Donnerstag sind „Syv cirkler“ (Sieben Kreise) von 1958 und „Glasperlespil II“ (Glasperlenspiel II) von 1960 zu hören. Beide Kompositionen dienten Stockhausen und Boulez als Beispielmaterial bei ihren Vorträgen über elektronische Musik. Es sind gelungene Arbeiten serieller Musik, wie sie in den 1950er Jahren auch im berühmten Kölner Studio für elektronische Musik unter der Leitung Stockhausens praktiziert wurde.

„Syv cirkler“ ist eine anfangs fragile, sehr atmosphärische Komposition, die behutsam entwickelt wird. Durch Überlagerungen und Tempovariationen simpler Töne gewinnt sie zunehmend an Dichte und Komplexität, die dann wieder aufgelöst wird. Benutzt werden ausschließlich elektronisch erzeugte Klänge von Tongeneratoren, die ursprünglich für die Elektrotechnik als Mess- und Testgeräte entwickelt wurden. Es war die erste in Dänemark entstandene elektronische Komposition, die im dänischen Radio uraufgeführt wurde.

Auch „Se det i øjnene“ (Gestehe es dir ein) von 1970 wird zu hören sein. Diese Arbeit steht in der Tradition der Musique concrète und besteht aus aufgenommen, also konkreten Klängen. Ungewöhnlich für die Musique concrète ist der rhythmische Charakter dieser Komposition: Ein einzelner kontinuierlich wiederholter Trommelschlag schafft eine rohe militärische Stimmung. Den akustischen Körper auf diesem rhythmischen Skelett bilden zwei Spracheinspielungen: eine Rede Hitlers und ein einzelner dänischer Satz „Hitler er ikke død!“ (Hitler ist nicht tot!). Beide Einspielungen werden über das ganze Stück hindurch wiederholt und variiert, es entsteht eine zunehmende Unruhe, obwohl der Rhythmus unverändert bleibt.

Die Komponistin verarbeitet den Zweiten Weltkrieg, der eine besondere Bedeutung in ihrem Leben hat: Während der deutschen Besetzung Dänemarks schloss sich die 18 Jahr alte Pade der Widerstandsbewegung an. Zwei Jahre später wurde sie 1944 von der Gestapo verhaftet und interniert und kam erst acht Monate später, nach der der Befreiung Dänemarks, wieder frei. Einer möglichen Deportation in ein Konzentrationslager entging sie wohl nur zufällig: Alle ihre Widerstandsgruppe belastenden Unterlagen verbrannten.

Während ihrer Inhaftierung lernte sie sowohl ihren späteren Mann als auch weitere Menschen kennen, die sie in ihrem Entschluss, Musik zu studieren, unterstützten. Deren monatliche Zuwendungen ermöglichten es Pade, auch gegen den Willen ihrer Eltern nach dem Kriege das Musikkonservatorium zu besuchen. Dennoch hat sie sich sowohl als Komponistin als auch als Frau immer isoliert gefühlt. So hat es bis zum Jahre 2001 gedauert, bis ihre Arbeiten erstmals auf Tonträger veröffentlicht und einem größeren Publikum zugänglich wurden.

Nun sind Pades Stücke neben Musik einer Auswahl etablierter Künstlerinnen wie Laurie Spiegel, Iris ter Schiphorst und Electric Indigo und noch nicht etablierten Künstlerinnen, wie Heidrun Schramm aus Berlin, zu hören. Eine Isolation dieser Künstlerinnen, wie sie Else Marie Pade über Jahrzehnte erlebte, wäre hier in erster Linie ein Versäumnis fürs Publikum: Offene Ohren werden hier über zwei Tage belohnt.

■ 11. und 12. Juni. Programm: http://berghain.de/event/970