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Archiv-Artikel

Ein Führer, der weiß, was zu tun ist

SCHRIFTEN ZU ZEITSCHRIFTEN Postpolitik und Ideologie: „Merkur“ und „Philosophie Magazin“ über Europa

Kurz nach der Europawahl scheint die Zukunft des Projekts Europa so ungewiss wie lange nicht mehr. Gefahr droht nicht nur von Rechtspopulisten, auch die Politik Russlands gibt sich zusehends europafeindlich. Muss sich Europa auf Umbrüche einstellen? Die in den aktuellen Heften von Merkur und Philosophie Magazin präsentierten Blicke auf Europa legen das nahe, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Perspektiven.

Deutschland gilt als europafreundliches Land. Wie aber steht es um den Hüter der Verfassung? Im Merkur skizziert der Europarechtler Martin Nettesheim die Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Das Verfassungsgericht, immer auch Akteur im politischen Geschehen, habe in den ersten drei Jahrzehnten seines Bestehens seine politische Utopie noch als Modell für die europäische Integration verstanden und den Brüsseler Institutionen eine Grundrechtsordnung auf supranationaler Ebene empfohlen. In den achtziger Jahren habe sich das Gericht hingegen vom utopischen Denken zu verabschieden begonnen. An dessen Stelle sei ein „postpolitisches Aufgabenverständnis“ getreten.

So beschränke sich das Bundesverfassungsgericht zusehends darauf, Schwächen im „Gesetzesprodukt“ aufzuspüren, was zur Entpolitisierung der Gesetzgebung beitrage. Dies habe Auswirkungen bei der Rechtsprechung zur europäischen Integration. Das Gericht versuche, das Einwirken aus Brüssel einzudämmen, was sich unter anderem in der Rechtsprechung zur Eurorettung bemerkbar mache: „Der Politik wird nicht die Freiheit zugestanden, Solidarität jenseits unabdingbarer Gefahrenabwehr zu zeigen.“ Staatliches Handeln werde auf das Nötigste reduziert, und obwohl die Mitentscheidungsrechte des Bundestags verstärkt worden seien, beschränke sich dessen Aufgabe oft auf eine „Ratifikationslage ohne eigenständige politische Zukunftsvision“, bei der es nur darum gehe, mit ja oder nein zu stimmen.

Erstaunlich ist an Nettesheims Befund, dass er seine Beobachtungen nicht als kritisch verstanden wissen will. Wenn er die postpolitische Gefährdungsbekämpfung abschließend als „zukunftsträchtiges Rollenverständnis“ des Bundesverfassungsgerichts bezeichnet, wundert man sich dann doch ein wenig. Ein zukunftsträchtiges Europaverständnis ist jedenfalls kaum zu erkennen.

Was es heißt, sein Europa zu verlieren, erzählt ein persönliches Erinnerungsstück der Journalistin Edith Lynne Beer, geboren im heutigen Westen Rumäniens, das ihre Eltern noch als Bukowina, den „äußersten östlichen Außenposten Österreich-Ungarns“, kannten. Ihre Familie, in den dreißiger Jahren in die USA ausgewandert, traf sich in den frühen vierziger Jahren regelmäßig am Wochenende, um die gemeinsame Vergangenheit im Gedächtnis zu halten. Beers Mutter habe ihre Kinder zudem gezwungen, Deutsch zu sprechen, sogar in der New Yorker U-Bahn, was die Tochter während des Zweiten Weltkriegs fürchten ließ, die anderen Fahrgäste hielten sie für deutsche Spione.

Die russische Offensive

Ein ideologisches Rüsten zum Angriff auf das gegenwärtige Europa sieht der Philosoph Michel Eltchaninoff in Russland am Werk. Im Philosophie Magazin identifiziert Eltchaninoff drei Säulen bei der „russischen Offensive“ im Denken Wladimir Putins: Im Inneren berufe er sich auf eine konservative Ideologie in der Nachfolge von Philosophen wie Iwan Iljin, für den Russlands Heil in einer nationalen Diktatur mit einem „Führer, der weiß, was zu tun ist“, lag. Von den Slawophilen habe Putin die Idee des „russischen Wegs“ übernommen. Ihr heute prominentester Vertreter Alexander Prochanow sehe zwei neue feindliche Lager in West und Ost entstehen, die auf einen Weltkrieg zusteuerten.

Das dritte Element sei der Eurasianismus, der ein dem Westen entgegengesetztes Imperium unter russischer Führung anstrebe. Putin habe zwar eine marktwirtschaftlich geprägte Wirtschaftsunion im Sinn und entwickle „keine alternative Doktrin zum globalen Finanzkapitalismus“, wie Oppositionspolitiker Alexander Morosow zitiert wird. Vor dem Hintergrund der Ereignisse in der Ukraine erscheint das allerdings wenig beruhigend. TIM CASPAR BOEHME

 Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Heft 781, Juni 2014, 12 Euro

 Philosophie Magazin, Nr. 4/2014, Juni/Juli, 6,90 Euro