Das ewige Schachbrett

Manuel Göttsching führte im Berghain sein wegweisendes Elektronikstück „E2-E4“ zum ersten Mal live auf – vor Kiffern, Japanern und der versammelten Berliner Technoszene

Lange war Manuel Göttschings Auftritt im Berghain angekündigt gewesen, hoch waren die Erwartungen. Und dann stand man auf der Tanzfläche, blickte in den kathedralenartigen Raum, hörte diesen majestätischen Sound – und ob man wollte oder nicht, nach einer Weile des Mitwippens rieselten einem tatsächlich die Glücksgefühle den Rücken herunter. Ja, „E2-E4“ mag das musikhistorische Missinglink zwischen Krautrock und Techno sein. Vor allem aber gelingt diesem Einstünder der in der Tanzmusik so seltene Balanceakt, unglaublich warm, ozeanisch und ekstatisch zu klingen, ohne dabei auch nur einen Moment lang cheesy zu sein.

Es war das erste Mal, dass Göttsching „E2-E4“ live aufführte. Ein bisschen bassmäßig aufgemotzt, entsprach es ziemlich genau der Version, die Göttsching vor 25 Jahren einspielte und die seitdem eine verschlungene Karriere durch Dutzende von Remixen und Neueinspielungen gemacht hat.

Eine interessante Crowd hatte sich im Berghain versammelt – „Kraut“ sagte jemand, das traf es ganz gut. Tatsächlich waren viele Leute gekommen, die Ash Ra Tempel und Göttsching schon in den Siebzigern gesehen und gehört hatten. Aber eben nicht nur. Da waren auch drei Handvoll ziemlich verstrahlter Goa-Raver, die in einem fort kifften und mit geschlossenen Augen verzückt ihre Glieder bewegten. Außerdem gab es mehrere japanische Reisegruppen von militanten Göttsching-Fans, die schachbrettgemusterte T-Shirts trugen, auf denen „E2-E4 E-ternal“ stand – als seien sie Mitglieder eines bizarren Krautrock-Kults. Göttsching soll ja im Wachsfigurenkabinett von Tokio stehen, zwischen Marilyn Monroe und Abraham Lincoln. Zwischendrin die gesamte Berliner Techno- und House-Prominenz, ohne Ausnahme. Die Belegschaften sämtlicher Technoplattenläden der Stadt waren vollzählig angetreten, um hier Weihnachten zu feiern.

Wenn große Kunstwerke immer auch Anlässe sind, die lagerübergreifend Sinn stiften, auf die sich die verschiedensten Menschen aus den verschiedensten Gründen ihren Reim machen können, dann wurde an diesem Abend ein solches gefeiert.

Und in der Mitte Manuel Göttsching, sehr groß und sehr hager, auf einer kleinen Bühne sitzend, die in die Tanzfläche des Berghain hineinragte. Während der ersten Hälfte seines Konzerts hatte er den Kopf über den Computerbildschirm geklemmt, um bunte Klötzchen zu verschieben. In der zweiten Hälfte nahm er dann seine Gitarre zur Hand, um die begleitenden Parts einzuspielen. Das war wunderschön und bewegend. In diesem Fall stimmt es wirklich einmal: Dieses Stück Musik, mit der endlosen Wiederholung seiner zwei Akkorde, mit der Art, wie der Drumcomputer eingesetzt wird und die Bassline pumpt, ist mehr als nur Vorlage für fast alles, was seitdem an elektronischer Tanzmusik produziert worden ist. Es funktioniert selbst schon genauso.

Wobei man bei Göttschings Zugabe aber auch verstand, warum er im Interview sagte, er habe seit dem Entstehen von „E2-E4“ nur wenig Gedanken auf das Stück verwendet. Am liebsten sind ihm dann eben doch Synthieflächen aus der Jazzrock- und Fusiontradition, denen man einen gewissen Kitschfaktor nicht absprechen kann, zumal wenn er dazu endlos auf seiner Gitarre gniedelt. Auch schön, irgendwie. Aber eine ganz andere Baustelle.

TOBIAS RAPP