Im falschen Film

WIKILEAKS Von der sexualliberalen Traumgesellschaft zum feministischen Saudi-Arabien? Mit den Anklagen gegen Assange hat das Schweden-Bild einen heftigen Knacks bekommen

„Ich bin in einem Wespennest des revolutionären Feminismus gelandet“

WIKILEAKS-MITGRÜNDER JULIAN ASSANGE

AUS STOCKHOLM REINHARD WOLFF

Am Dienstag stand Julian Assange wieder vor dem Kadi. Zumindest für zehn Minuten. Nach dem juristischen Vorgeplänkel über Untersuchungshaft oder Freilassung auf Kaution hat der Londoner Belmarsh Magistrates’ Court nun die Anhörung Assanges über die Frage seiner Auslieferung an die schwedische Justiz zur Klärung der gegen ihn erhobenen Sexualdelikts-Beschuldigungen auf den 7. Februar zu vertagen. Folgt Assange nicht dem Rat, den ihm der Wikileaks-Fan, Pirate-Bay- und Flattr-Mitbegründer Peter Sunde dieser Tage in einem Times-Interview gab, nämlich freiwillig nach Schweden zu kommen, um Wikileaks nicht noch mehr zu schaden, könnte sich das Verfahren über Monate hinziehen.

Dass die britische Justiz dem schwedischen Begehren letztendlich folgen wird, scheint nach ihrer bisherigen Praxis im Umgang mit europäischen Haftbefehlen so gut wie sicher. Da mag sich Assange noch so sehr beklagen, dann in ein – Zitat aus einem Interview mit The Australian – „Saudi-Arabien des Feminismus“ ausgeliefert zu werden.

Nicht Lindgren – Sex

Wenn der Chef der Enthüllungsplattform sich die Ehre anrechnen darf, höchstpersönlich zu einer „Enthüllung“ beigetragen zu haben, dann wohl der, dass die hartnäckige Vorstellung von Schweden als sexuellem Sündenpfuhl der Welt mit den Beschuldigungen gegen ihn offenbar einen ernsthaften Knacks bekommen hat. Oder, so sein britischer Rechtsanwalt Mark Stephens: Von einer sexualliberalen Traumgesellschaft habe sich Schweden zu einer feministischen Diktatur gewandelt.

Hat da jemand im Bahnhofskino zu viel „Schweden-Filme“ der Sorte „Inga from Sweden“ konsumiert? Stephens stünde mit einem solcherart beeinflussten Schwedenbild keinesfalls allein. Als die schwedische Fremdenverkehrszentrale vor einigen Jahren auf der Suche nach einem neuen Werbekonzept eine Umfrage startete, erfuhr sie Erstaunliches: Wenn sie nach Schweden gefragt wurden, fiel den meisten Leuten nicht als Erstes Astrid Lindgren, Abba oder Ikea ein, sondern – Sex.

Schweden für immer geprägt von dem Bild einer nackten Frauenbrust aus Ingvar Bergmans „Sommer mit Monika“? Von damals wahrlich Revolutionärem wie dem Sexualunterricht an der Schule? Von einem 50er-Jahre-Time-Report „Sin & Sweden“ oder der 68er-italienischen Pseudo-Dokumentation „Svezia, Inferno e Paradiso“?

Und jetzt, so verbreitete der US-Sender Fox News ebenso fehlerhaft wie ernsthaft, habeSchweden ein Gesetz, das „Sex by Surprise“ bestrafe und gar der arme Mann in den Knast komme, dem beim Akt das Kondom kaputtgehe. Anwalt Stephens sah sich nun „in einem surrealistischen Schweden-Film“.

Julian Assange scheint nach seinen „10 Days in Sweden“ (Guardian) selbst irgendwie im falschen Film zu sitzen. Kann es sein, dass der bekennende Fan der Krimis von Stieg Larsson bei seinen Komplott-Vorwürfen gegen zwei Schwedinnen zu sehr die Larsson-Heldin Lisbeth Salander im Hinterkopf hat? Und da nur den Teil mit der Rache? Hat er übersehen, dass es für die Vorwürfe Ursachen gibt? Seine Klage im The Australian, „ich bin in einem Wespennest des revolutionären Feminismus gelandet“, könnte darauf hindeuten.

Dabei scheint es nach allem, was man bislang weiß, doch eher danach auszusehen, dass es ganz einfach an der Kommunikation zwischen den Beteiligten gehakt hat. Nur deshalb scheint es jetzt überhaupt diesen „Fall Assange“ zu geben. Das hat in Schweden mittlerweile über Assange hinaus zu einer regen Debatte im Internet und Feuilleton geführt: Darüber, wie es durch mangelnde oder missverständliche Kommunikation, speziell der Schwierigkeit, „Nein!“ zu sagen, einerseits zu ungewollten sexuellen Kontakten kommen kann, andererseits zu fragwürdigen Vergewaltigungsvorwürfen.

Ausgelöst wurde die Debatte durch die Journalistin Johanna Koljonen, die sich darüber ärgerte, dass Assange-Fans wie Naomi Klein, John Pilger und Michael Moore diesem seine Unschuld-vom-Lande-Geschichte ungeprüft abnahmen und zwei schwedische Frauen damit gleichzeitig kurzerhand der Lüge beschuldigten.

Zeitgleich tauchte auch die Website prataomdet.se („Prata om det“ = „Lasst uns darüber reden“) auf. Dort findet ein sehr offener Austausch von persönlichen Schilderungen aus der „sexuellen Grauzone“, der Grenze zwischen Sex und Vergewaltigung, statt. „Wir brauchen eine Sprache für Sex ohne Scham, wir müssen über unsere eigenen und die Grenzen anderer reflektieren“, definiert prataomdet.se als Ziel: „Wir müssen über Grenzziehungen, Grauzonen und Grenzverletzungen sprechen, die in sexuellen Situationen aufkommen. Es muss sich etwas ändern.“ Schon ist von einer „neuen sexuellen Revolution“ die Rede, die prataomdet.se ausgelöst habe.

Die Stockholmer Medienwissenschaftlerin Anu Koivunen rühmt, dass Schweden als Hochburg von gleichermaßen Liberalismus wie Moral mal wieder Zeichen setze, und konstatiert: „Schweden und Sex gehören eben doch zusammen.“

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