Feine Knüpftechnik

Drei Männer aus dem Osten erobern das intellektuelle Westdeutschland: Uwe Johnson, Walter Kempowski und Fritz J. Raddatz schreiben sich Briefe

Ferne Nähe zieht sich durch diese Briefe – ein Stück bundesrepublikanischer Kulturgeschichte

Von ALEXANDER CAMMANN

Das Telegramm nach Nartum vom März 1971 signalisierte Dringlichkeit: „Was heißt Ocki-Arbeit“, fragte Uwe Johnson seinen Kollegen Walter Kempowski, nachdem er dessen eben erschienenen Roman „Tadellöser & Wolff“ gelesen hatte und dort über jenen Begriff gestolpert war. Die Aufklärung erfolgte telefonisch: Ocki-Arbeit ist eine alte Knüpftechnik zur Herstellung von Spitzen, eine Handarbeit, bei der aus dicht nebeneinander liegenden Knoten Bogen und Ringe gebildet werden, aus denen schließlich die Spitze entsteht.

Sinnbildlicher hätte diese erste Kontaktaufnahme der beiden größten Knüpftechniker, die die deutsche Literatur nach 1945 zu bieten hat, kaum ausfallen können. Denn aus den unendlichen Fäden der Vergangenheit bilden Johnson und Kempowski jeweils ihre Knoten, Bogen und Ringe, verweben sie zu ihren geschichtsträchtigen Werkstrukturen: Johnson zu den mehr als 1.800 Seiten der Romantetralogie „Jahrestage“, Kempowski zu seiner mehrbändigen „Deutschen Chronik“ (neben „Tadellöser & Wolff“ gehören dazu unter anderem „Uns geht’s ja noch gold“ und „Ein Kapitel für sich“) sowie später zum gigantischen „Echolot“-Projekt.

Auch wenn Johnsons Telegramm mit einer scheinbar skurrilen Frage eine seiner typischen ironischen Indirektheits-Inszenierungen war: Details der Vergangenheit waren für ihn stets von allerhöchster Dringlichkeit. Im gleich hinterhergeschickten lobenden Brief an Kempowski findet sich die Formulierung, die das ästhetische Programm der beiden so unterschiedlichen Autoren benennt: „Erinnerung als eine Hauptfunktion des Erzählens“. Schreibende Ocki-Arbeit löst es ein.

Heute sind die beiden manischen Erinnerer selber zum historischen Stoff geworden. Was für die Kultur- und Literaturgeschichte der Bundesrepublik generell gilt, wird im Falle Uwe Johnsons besonders deutlich: Die Zeit der Archivare und Editoren ist angebrochen. Seit einigen Jahren werden seine Briefwechsel mit philologischer Hingabe und reichhaltigen Anmerkungsapparaten veröffentlicht – übrigens auch verlegerisch eine beeindruckende Leistung, von der das sturmumtoste Haus Suhrkamp hoffentlich nicht ablassen wird. An den komplizierten Freundschaftsverhältnissen Johnsons zu seinem Suhrkamp-Kollegen Max Frisch, zu seinem Verleger Siegfried Unseld und zuletzt zur Philosophin Hannah Arendt konnte man bislang auf diese Weise teilhaben.

Nun also folgen gleich zwei Briefwechsel: jener mit Kempowski, erschienen im Berliner Transit Verlag, neben dem Telegramm knapp 60 weitere Briefe und Ansichtskarten umfassend – ein mit zahlreichen Faksimiles ausgestattetes, liebevoll gestaltetes Kleinod für den Gabentisch, zudem kenntnisreich eingeleitet und kommentiert. Und daneben die ebenfalls hervorragend kommentierten 179 Briefe, die zwischen Johnson und Fritz J. Raddatz hin und her gingen, dem Autor, Journalisten, Rowohlt-Verleger und Feuilletonchef der Zeit zwischen 1977 und 1985.

Die Parallellektüre lohnt, obwohl die Adressaten unterschiedlicher nicht sein könnten. Der 1929 geborene Kempowski, zwischen 1948 und 1956 im Zuchthaus in Bautzen einsitzend und später im Westen sein Brot als Volksschullehrer verdienend, wird vom bundesdeutschen Literaturbetrieb lange als Unterhaltungsschriftsteller verkannt. Raddatz, Jahrgang 1931, in den Fünfzigerjahren stellvertretender Cheflektor des Ostberliner Verlags Volk und Welt, verlässt 1958 die DDR und macht im Westen als rastloser kultureller „Unruhestifter“ (so der Titel seiner Memoiren) eine steile Karriere. Und der 1934 geborene Johnson, der 1959 ebenfalls in den Westen geht und mit seinem Erstling „Mutmaßungen über Jakob“ im gleichen Jahr sofort einer der bedeutendsten deutschen Gegenwartsschriftsteller wird und den Suhrkamp-Kosmos als Autor und Berater mitprägt.

Ferne Nähe zieht sich durch den Briefwechsel zwischen Johnson und Kempowski, die wissen, dass sie vom Stoff der gleichen mecklenburgischen Weltgegend zehren. Gerne tauscht man sich darüber aus, schickt sich neckisch Rostocker Ansichtskarten, in einer Mischung aus nordischer Sprödigkeit und amüsiert-unbeholfener Herzlichkeit. Doch ein Sicherheitsabstand bleibt gewahrt. „Ich habe immer etwas ‚Schiss‘ vor Ihnen“, schreibt Kempowski 1979 ganz offen an Johnson: „Sie haben so etwas Strenges an sich, das mir zwar vertraut ist, aber mir den Mund verschließt.“ Johnsons Elefantengedächtnis wird das erst 1982 kommentieren, als er seinem Gegenüber nur halb ironisch vorhält, immer die „unangenehmen unter meinen Eigenschaften“ vorzuschieben, um Besuchen auszuweichen.

Wie streng Johnson sein konnte, hatte Kempowski 1972 erfahren müssen, als er dem Kollegen auf dessen Bitte hin das Manuskript von „Uns geht’s ja noch gold“ geschickt hatte; Johnson wollte es lektorieren. Dessen Verdikt fiel nach der Durchsicht harsch und präzise aus: „Solange das Buch in diesem Zustand ist, sollte dem Verfasser von einer Veröffentlichung abgeraten werden. Er kann seine Sache besser, als hier zu sehen ist.“ Es spricht für Kempowskis Souveränität, dieses Urteil ohne sichtbares Zucken weggesteckt zu haben. Im Jahr 1980 schreibt er im Rückblick sogar, dass es damals vor der Veröffentlichung „falsch war, nicht mehr von dem zu berücksichtigen, was Sie rieten“.

Legendär sind die Empfindlichkeiten Uwe Johnsons, die in zahllosen Anekdoten überliefert wurden. Tiefe, nie heilende Verletzungen und Zerwürfnisse führten zum Bruch mit einstigen Freunden, so mit Hans Magnus Enzensberger, mit Günter Grass und dem Literaturkritiker Reinhard Baumgart. Auch diese Briefe lassen solche Gefährdungen ahnen. Doch Kempowski, der ihm freilich nie so nahe kam, vermag die Strenge und den „komprimierten Ernst“ Johnsons zu schätzen: „Dafür muss man sich bei Ihnen bedanken, es gibt nicht viele, die so geradeheraus sind.“ Darin liegt sicher die Lösung für das Rätsel, weshalb der so schwierige, unleidliche, alkoholisiert oft unausstehliche Johnson dennoch ein großer Kommunikator war, dessen enormes Briefpensum verblüfft. Immer im Zentrum und doch Außenseiter bleibend, nahm er andere in seiner Unverstelltheit wenigstens zeitweise für sich ein.

Fritz J. Raddatz warb viele Jahre um „Groß Uwe“, wie er den drei Jahre jüngeren Johnson stets anredete, was dieser mit einem „Fritzchen“ erwiderte. Auch Kempowski hatte den sechs Jahre jüngeren einmal ironisch als „großen Bruder“ apostrophiert, was die psychologischen Konstellationen bestens illustriert. Der Wirbelwind Raddatz, den Joachim Fest vom Konkurrenz-Feuilleton der FAZ einmal abschätzig als „bunten Rock“ bezeichnete, korrespondierte mit dem immer neugierigen Johnson über alles, was der Literaturbetrieb so hergab: Intrigen, Projekte, Klatsch, Sorgen, Nöte. Ein Sittengemälde der späten Sechziger- und Siebzigerjahre wird in diesem Briefwechsel von zwei Händen gezeichnet.

Er ist dennoch weit mehr als nur ein Zeugnis von geschäftiger Vertratschtheit. Denn der als Rowohlt-Chef und später bei der Zeit durchaus mächtige Raddatz überschwemmt Johnson in berührender Offenherzigkeit mit seinen Klagen über mangelnde Anerkennung: Unseld drucke seine Habilitation nicht, ignoriere ihn sowieso, Freund Augstein verrate ihn und lasse im Spiegel den Plagiatsvorwurf des Ostberliner Philosophen Wolfgang Harich gegen Raddatz’ Marx-Biografie drucken, ein „Mordanschlag auf meine gesamte Existenz“. Johnson tröstet, wenn er kann und mag; als Genauigkeitsfanatiker moniert er aber immer wieder die fehlende Gründlichkeit und Ausdauer des kreativen Raddatz.

Tatsächlich lässt sich der distanzversessene Johnson auf Raddatz nicht wirklich ein; dieser moniert denn auch: „es ist mir ein bisschen leid, meine gewissen zutraulichkeiten in den hals zurückgestoßen zu kriegen“. Als Johnson dann Mitte der Siebzigerjahre immer tiefer in eine Schreibkrise gerät, der vierte Band der „Jahrestage“ stockt und er in dieser zerrütteten Situation wohl auch seine Ehe ruiniert, kommt es 1978 zum Bruch, weil Raddatz angeblich die Gerüchte um das Scheitern der Ehe befördert hätte: „Nun bedauern wir gründlich, nie gehört zu haben auf jene Reihe Leute, die uns davor warnten, Ihnen je zu vertrauen.“ Eine Beziehungsgeschichte zweier gegensätzlicher Charaktere, mit Zuneigungen und Zurückweisungen, schließlich mit tragischem Ende.

Drei Männer aus dem Osten erobern die intellektuelle Landschaft Westdeutschlands: Für diese bislang ungeschriebene Geschichte jener östlichen Blutzufuhr, die der westliche Kulturbetrieb einst erhielt, liefern diese Briefe wichtiges Material. Streicheln wir also die von Johnson gerne erwähnte „Katze Erinnerung“, damit sie noch oft durch die bundesrepublikanischen Archive streift und ähnliche gelungene Ocki-Arbeit verrichtet wie in diesen beiden Briefausgaben.

„Liebes Fritzchen“ „Lieber Groß-Uwe“. Uwe Johnson – Fritz J. Raddatz: Der Briefwechsel. Hg. v. Erdmut Wizisla. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, 340 Seiten, 26,80 EuroUwe Johnson/Walter Kempowski: „Kaum beweisbare Ähnlichkeiten“. Der Briefwechsel. Hg. v. Eberhard Fahlke und Gesine Treptow. Transit, Berlin 2006, 143 Seiten, 14,80 Euro