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: Alles gehabt

„Ich will alles – Die Gitte Haenning Story“, NDR-Fernsehen, 23 Uhr

Die Protagonistin mag Tarnfarben-Kluft, sie trägt sie im Film und – „aus Solidarität mit unseren Jungs da unten“ – auch bei der Premiere von Marc Boettchers Doku „Ich will alles“ bei den Nordischen Filmtagen in Lübeck. Unklar bleibt, wen die 60-jährige Dänin Gitte Haenning mit „unsere Jungs“ meint und wo genau „unten“ ist, aber das Statement ist clever: Für die Muttis im Publikum klingt es staatstragend, und die anderen, die sie für ein Enfant terrible des deutschen Schlagers halten, wittern Ironie.

Ihre Karriere startete Gitte als Achtjährige, und mit 15 sang sie Jazz-Standards, deren Texte kaum zu einem Teenager passten. 1963 geriet sie aber in die Fänge der Schlagerindustrie und ließ sich das Jux-Lied „Ich will nen Cowboy als Mann“ aufschwatzen, das bis heute ihr Markenzeichen bleibt.

Aus der Maschinerie konnte sie sich nie befreien, trotz diverser Imagewechsel, die manchen Fan irritierten. Nur 1968 gelang für kurze Zeit der Ausbruch: Mit der Kenny Clarke/Francy Boland Big Band um den einflussreichen Jazz-Schlagzeuger Clarke spielte sie eine viel beachtete Platte ein.

Man muss kein Fan sein, um an Böttchers zweistündigem Film Gefallen zu finden. Dem Regisseur, der schon Bert Kaempfert und Alexandra porträtierte, gelingt, auch dank erfrischenden Splitscreen-Einsatzes, ein dynamischer Trip durch fast ein halbes Jahrzehnt deutscher Popkulturgeschichte. Im Dunkeln bleibt leider, warum die Künstlerin „als Geschäftsfrau versagt“ hat, wie es in einer eingeblendeten Schlagzeile heißt. Waren finanzielle Turbulenzen der Grund dafür, dass Gitte Schlager statt Jazz sang? Das Geld, das sie als Kinderstar verdiente, war einst in Mietshäusern angelegt worden. Eine solche Basis müsste Widerstand gegen die Kulturindustrie ermöglichen. RENÉ MARTENS