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Archiv-Artikel

Eine unerwünschte Zeugin

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

„Wie viel Geld haben sie dir gegeben? Los! Sag es! Wie viel?“ Die Frau stellt die Frage immer wieder. „Nada“ antwortet Sarah, „nichts“. Die Frau wird lauter. Sie ist eine Armlänge von Sarah entfernt. Ihr Körper bebt. Mehrfach will sie auf Sarah losgehen. Ein Mann hält sie an der Schulter zurück.

Sarah steht mit dem Rücken zur Wand. Der Scheinwerfer blendet sie. Rechts, links und direkt vor ihr stehen vier Männer und die Frau. Alle fünf tragen Masken. Einer richtet den Scheinwerfer auf Sarah. Ein anderer die Kamera. Die Frau führt das Verhör. Der Raum hinter den Maskierten ist dunkel. Bevor sie kamen, um sie aus ihrer Zelle abzuholen, hörte Sarah dumpfe Stöße in der Nachbarzelle. Dort sind ihre beiden mexikanischen Freunde eingesperrt. Sarah ist sicher, sie werden geschlagen.

Ins Zentrum der Bewegung

Zwei Wochen sind vergangen. Sarah Ilitch hat sich alles genau gemerkt. Wenn sie darüber spricht, vergisst sie vor Aufregung manchmal das Luftholen. Sarah Ilitch ist jetzt 8.000 Kilometer weit von dem Polizeikommissariat in der mexikanischen Provinzstadt Oaxaca entfernt. Gegen ihren Willen und viel früher als geplant kam sie nach Frankreich zurück. Abgeschoben als unerwünschte Ausländerin. In der Maschine von Aeroméxico saß die 22-jährige Studentin aus Nizza zwischen zwei mexikanischen Grenzpolizistinnen. „Nach der Landung wird uns Sarah durch Paris führen“, hat eine von ihnen gesagt. Sarah fand das nicht witzig. „Es widert mich an, dass ich jetzt hier bin.“ Sie ist verliebt. Sie wollte länger in Mexiko bleiben. Sie wollte in die Wüste reisen und ans Meer.

Die neun Wochen Mexiko haben Sarahs Leben verändert. Sie ist ein behütetes Mädchen. Vor Mexiko war sie ein bisschen links. Ein bisschen umweltbewegt. Manchmal unterschrieb sie eine Protestmail gegen Personenminen oder gegen die Zerstörung eines Gletschers.

In Mexiko ist Sarah in eine politische Bewegung hineingeraten. In den Sog einer Stadt, aus der der Gouverneur und die Polizei geflohen waren. Als Sarah im Oktober in Oaxaca anreist, ist es eine Stadt in Selbstverwaltung. Auf dem Zócalo, dem Hauptplatz, zelten seit Mai Lehrer. Sie verlangen mehr Lohn. In den Stadtteilen haben Bürger Barrikaden gebaut, um sich vor Polizeiüberfällen zu schützen. In einem besetzten Haus in der Innenstadt probieren Jugendliche aus Mexiko und anderen Ländern die Anarchie. Die Oaxaqueños verlangen den Rücktritt ihres korrupten Gouverneurs Ulises Ruiz. Und Neuwahlen.

Vor ihrer Mexikoreise hat Sarah nie von Oaxaca gehört. Sie hat Spanisch gelernt und in einer Bar gejobbt. Im September bricht sie mit einer Freundin in Frankreich auf. Zusammen mit dem Geliebten der Freundin fahren sie in die nördlich von Mexiko-Stadt gelegene Vulkanlandschaft von Michoacán. Dann runter an die Pazifikküste. Jeden Abend schlagen sie ihr Zelt an einem anderen Ort auf. Sarah gefällt es. Bloß der Beziehungsstress der beiden geht ihr auf die Nerven. Sie reist allein weiter. Ein spanischer Freund hat ihr eine Mail aus Oaxaca geschickt, wo er in der „Casa de la Resistencia“ wohnt. Dort soll Sarah ihn abholen, damit sie gemeinsam weiterreisen können. Sarah spricht Spanisch mit französischem Akzent. Aus ihrem Mund klingt „Resistencia“ wie der französische Widerstand gegen die Nazis.

An einem Sonntagmorgen im Oktober steigt Sarah in einem Sommerkleidchen und mit Rucksack in Oaxaca aus dem Bus. Entdeckt die Graffiti an den Mauern der alten Kolonialgebäude. Und die Zelte auf dem Zócalo. Streikende Lehrer laden die Touristin zum Frühstück ein. Sarah isst die ersten Tamales oaxaqueños ihres Lebens: in Fladen gewickeltes Fleisch, in einer scharfen Schokoladensoße, gegart in Bananenblättern. Eine ältere Frau will sie mit nach Hause nehmen: „Hier ist es zu gefährlich für dich.“

Aber Sarah will in das besetzte Haus. Sie hat Isomatte und Schlafsack dabei. Die Hausbesetzer organisieren Workshops über Drucktechniken und rufen zu Bücherspenden auf. Sie wollen eine Bibliothek eröffnen. Sarah macht überall mit. Sie sammelt Unterschriften für politische Gefangene. Jongliert mit Feuerstäben. Zieht Zäune um den Kräutergarten, damit die Hunde nicht hineinkönnen. Oaxaca ist für sie ein großes Fest. „Mexiko ist ein wunderbares Land“, sagt Sarah in Paris, „aber so ungerecht.“

„Das hier geht dich nichts an“

Schon in ihren ersten Tagen in Oaxaca erfährt sie, dass die Stimmung nicht überall so ausgelassen ist wie bei den jungen Hausbesetzern. Sie hört von nächtlichen Überfällen auf Barrikaden. Von verhafteten jungen Frauen, die von Polizisten vergewaltigt werden. Und von dem US-amerikanischen Journalisten Brad Will, der erschossen wird, während er auf einer Barrikade steht und filmt. Sarah hatte den jungen Mann wenige Tage zuvor in dem besetzten Haus kennengelernt. Nie zuvor ist jemand, den sie kannte, durch Gewalt gestorben.

Außerhalb der Stadt versammeln sich tausende Polizisten aus ganz Mexiko. Darunter die berüchtigte Policía Preventiva. Am 2. November, dem Tag des mexikanischen Totenfests, versucht die Polizei, Oaxaca zurückzuerobern. Polizisten werfen aus Hubschraubern Tränengasbomben. An Kreuzungen dauert die Konfrontation bis zum Abend. Sarah ist mittendrin. Sie ist Sanitäterin. Hat Coca-Cola, Essig und Wasser dabei. Als die Polizisten nach sieben Stunden abziehen, herrscht Jubel in der Stadt. Aber alle wissen: Sie werden wiederkommen. Sarahs spanischer Freund verlangt, dass sie Oaxaca verlässt. „Das hier geht dich nichts an“, sagt er, „spiel du erst mal mit den französischen Bullen.“ Noch Wochen danach ist Sarah gekränkt, wenn sie daran denkt. „Natürlich ist es nicht mein Land“, sagt sie, „aber die Leute sind so alt wie ich. Sie sind meine Freunde. Ich bin solidarisch mit ihnen.“ Sahra bleibt.

Am letzten Novembersamstag demonstrieren Hunderttausende in Oaxaca. Noch bevor sie die Innenstadt erreichen, beginnt ein brutaler Polizeieinsatz. Dutzende Menschen werden verletzt. Viele tragen Schusswunden davon. Auch von Toten ist die Rede. In den offiziellen Statistiken tauchen sie nicht auf. Autos, Geschäfte und Hotels brennen.

Dieses Mal bringt die Polizei die Stadt unter ihre Kontrolle. Der verhasste Gouverneur Ulises Ruiz kehrt nach Monaten zurück und zeigt sich mit einem Besen auf dem Zócalo. Bulldozer zermalmen die Barrikaden. Der Protestsender Radio Universidad funktioniert zwar noch, aber er strahlt im Minutentakt Suchmeldungen nach verschwundenen Demonstranten aus. Und Aufrufe, Verbandsmaterial zu spenden.

In einem dunklen Raum

Am Montag danach geht Sarah mit zwei mexikanischen Freunden einer belebte Straße in Oaxaca entlang. Es ist 16 Uhr, als fünf schwarzweiß lackierte, offene Jeeps der Polizei im Schritttempo heranrollen. Mehr als ein Dutzend Polizisten springen heraus und umzingeln die drei jungen Leute. Jemand weist mit dem Finger auf Sarah. Sagt, dass sie „dabei“ war. „Warum zitterst du?“, fragt einer der breitbeinig dastehenden Polizisten grinsend. Sarah und die beiden Mexikaner müssen auf eine Ladefläche steigen. Ihr wird ihr roter Stoffbeutel und der Schmuck abgenommen. Einzelzelle.

Nachdem die Maskierten sie vom Verhör in dem dunklen Raum zurückgebracht haben, müssen Sarah und ihre beiden Freunde erneut auf die Ladefläche eines Jeeps steigen. Hinter ihnen fahren zwei weitere Polizeijeeps und ein Motorrad durch die Nacht. Die drei jungen Leute tragen T-Shirts. Sie frieren. Sie halten sich bei den Händen. Ein Polizist fotografiert Sarah mit seinem Mobiltelefon. Die Fahrt dauert länger als eine Stunde. Niemand spricht. Sarah hat Angst, dass sie nie mehr aus dieser Nacht zurückkehren wird. „Ich bin erst 1984 geboren“, sagt Sarah in Paris, „aber ich weiß, was in Chile passiert ist.“

Am Morgen danach, auf einer anderen Polizeiwache, liegt Sarahs roter Stoffbeutel auf einem Tisch. Daneben ist ihr Schmuck aufgereiht, außerdem Dinge, die ihr nicht gehören. Sarah sieht Steinschleudern. Und Beutel mit Kugeln. Jemand fotografiert. Ein Polizist liest vor, was sich in Sarahs Beutel befunden haben soll. Außer den Wurfgeschossen zählt er drei Gesichtsmasken auf sowie „Gefäße, Brennstoff und Zünder“, die geeignet seien, Molotowcocktails zu bauen. Sarah und ihre beiden Freunde, so haben vier Polizisten ausgesagt, seien in der Nacht erwischt worden, als sie ein Polizeimotorrad anzündeten. Sarah soll ein weißes Blatt Papier unterschreiben. Was auf der Rückseite steht, darf sie nicht lesen.

Drei Tage später sitzt Sarah zwischen den Grenzpolizistinnen im Flugzeug. Ihre mexikanischen Freunde sind im Gefängnis. In der Abschiebehaft in Mexiko-Stadt erfährt Sarah, dass ihr Aufruhr, Widerstand gegen die Staatsgewalt und Angriffe auf die Polizei vorgeworfen werden.

Todos somos Oaxaca

Bei der Ankunft in Paris trägt Sarah ihr zerrissenes T-Shirt, auf dem steht: Todos somos Oaxaca, wir sind alle Oaxaca. Seither hat sie mehrfach vor der mexikanischen Botschaft gegen Menschenrechtsverletzungen demonstriert. Sie war auch bei politischen Diskussionen. Und sie hat mit einem Anwalt juristische und diplomatische Schritte gegen die mexikanische Republik besprochen. „Ich will nicht sagen, Mexiko war cool. Ich habe da die Revolution gemacht“, sagt Sarah in Paris.

Andere Ausländer, die gleichzeitig mit Sarah aus Oaxaca abgeschoben wurden, haben ein Einreiseverbot für Mexiko erhalten. Bis zu zehn Jahre. Zu Sarah gibt es keine offizielle Stellungnahme. Nichts Schriftliches. Der Sprecher der mexikanischen Botschaft in Paris sagt zwei Wochen nach der Abschiebung der jungen Französin: „Wir haben keine Informationen aus Mexiko.“