: Mediziner und Juristen an einem Strang
BEISPIEL 2 Wie „Physicians for Human Rights“ geholfen hat, die neuen Standards zur Dokumentation sexueller Kriegsverbrechen zu entwickeln. Ärzte bestätigen auf dem Gipfel die Wichtigkeit klarer Kriterien
■ Internationales Protokoll über die Dokumentierung und Untersuchung sexueller Gewalt in Konflikten heißt das von 123 Staaten getragene 140-seitige Gipfeldokument von London: www.gov.uk/government/publications/international-protocol-on-the-documentation-and-investigation-of-sexual-violence-in-conflict
■ Einheitliche Standards zur Dokumentation sexueller Gewaltverbrechen sind das Thema des Protokolls. Das soll dazu beitragen, Täter überall auf der Welt vor Gericht zu bringen und Opfern überall zu helfen. Das Protokoll behandelt die juristischen Definitionen der verschiedenen sexuellen Gewaltverbrechen. Weiter führt es aus, wie man Opfer identifiziert, befragt, unterstützt und schützt und wie mit Problemen von Kontext, Übersetzung, Sicherheit und Datensammlung umzugehen ist.
■ Fünf Mindestbedingungen für ordentliche Untersuchungen werden genannt: Verständnis der Risiken; Ausbildung der Untersucher; Aufklärung und Zustimmung der Betroffenen; Schutz der gesammelten Informationen; besondere Sorgfalt mit Minderjährigen.
AUS LONDON DANIEL ZYLBERSZTAJN
Hauptergebnis des Londoner Gipfels ist ein lang erwartetes Arbeitsprotokoll zur Dokumentation und Untersuchung sexueller Gewalt in Konfliktzonen. Das Protokoll ist das Leitdokument des Gipfels. Die Erwartung internationaler Organisationen ist, dass so viele Staaten wie möglich es als offizielle Grundlage für die weitere juristische Arbeit akzeptieren.
An der Erstellung des 142 Seiten starken Protokolls waren alle Organisationen und Institutionen beteiligt, die sich mit dem Thema auseinandersetzen müssen, von Amnesty International über die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bis zum Internationalen Strafgerichtshof. Eine Organisation konnte ganz besondere Erfahrungen einbringen: Physicians for Human Rights (PHR), die „Ärzte für Menschenrechte“ mit Sitz in New York.
PHR hat seit vielen Jahren menschenrechtsbezogene Untersuchungen über Gewalt, Folter und Kriegsverbrechen in über 40 Ländern durchgeführt, beispielsweise in Afghanistan, Kongo, Sudan oder Exjugoslawien. Eine ihre Hauptberaterinnen ist die Ärztin Coleen Kiviahan aus den USA, die sich seit 30 Jahren mit der Dokumentation sexueller Gewalt auseinandersetzt. Ihre Empfehlungen, die nicht nur maßgebend für PHR geworden sind, sondern sich nun auch im besagten Arbeitsprotokoll wiederfinden, sind „keine Neuheit“, sagt sie: Es handelt sich um nichts anderes als eine multidisziplinäre Arbeitsmethode und das enge Zusammenwirken von Polizei, Ärzten, Richtern, Sozialarbeitern, Psychologen und Anwälten.
In Trainingsseminaren, zuerst in den USA, aber später auch in Lateinamerika und Afrika, bringt PHR Vertreter all dieser Bereiche zusammen und bildet sie gemeinsam weiter aus. In Diskussionen und Rollenspielen werden Erfahrungen ausgetauscht, medizinische oder juristische Begriffe gegenseitig erklärt und Empfehlungen zum professionellen Umgang mit Opfern sexueller Gewalt weitergegeben. „Alle arbeiten zusammen, mit dem gleichen Ziel“, so Kiviahan.
Einer der Nutznießer dieses Projekts ist David Bodeli, Chef der Kinder-und-Frauen-Schutzpolizei (PSPEF) in Goma, mitten im Kriegsgebiet Ostkongo, das von UN-Organisationen als „Vergewaltigungshauptstadt der Welt“ bezeichnet wird. Über 600 Opfern konnte inzwischen vor Ort Gerechtigkeit verschafft werden, sagt der ehemalige Kriminalhauptkommissar. Der Schlüssel zu diesem Erfolg, nach seiner Meinung: Dank der PHR-Schulung begannen Ärzte zu verstehen, dass die Art der Dokumentation sexueller Kriegsverbrechen wesentlicher Teil des Erfolges eines Rechtsverfahrens ist, nicht nur ihre Arbeit als Heiler und Pfleger.
Thierry Ntumba Nasibu bestätigt dies. Er ist ein Arzt aus Minova, einem Ort am Kivu-See. Vor drei Jahren, also vor der Einführung der neuen Arbeitsmethoden, habe man Opfer sexueller Gewalt genau wie alle anderen Patienten behandelt. Nun aber erhielten sie eine besondere Aufnahme und Pflege; ihre Anonymität werde besser gewahrt, alle Verletzungen und Symptome würden bestmöglich und detailliert dokumentiert.
Jetzt sind diese Methoden auch ins internationale Protokoll aufgenommen. Die zuzuordnenden rechtlichen Kategorien und Definitionen sowie deren Erfassung werden klar erklärt, von Folter, Vergewaltigung und Kriegsverbrechen bis hin zum Genozid.
Coleen Kiviahan ist mit ihrem Ziel nicht bescheiden. Auf die Frage, was der Londoner Gipfel für sie erreichen solle, antwortet sie: „Wir wollen jeden Minister darum bitten, das multidisziplinäre Training im eigenen Land einzuführen.“