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Archiv-Artikel

„In Ramallah hat jeder eine Knarre“

Die palästinensischen Rivalen Fatah und Hamas einigen sich nach den Kämpfen vom Wochenende auf einen Waffenstillstand. Präsident Abbas will an den umstrittenen Neuwahlen festhalten. Diplomatische Fortschritte würden ihm nützen

AUS RAMALLAH SUSANNE KNAUL

Jamil Rayyan glaubt nicht, dass der palästinensische Waffenstillstand halten wird. Fatah und Hamas „werden nicht zusammenkommen“, sagt der 27-jährige Geschäftsmann aus Ramallah im Westjordanland. „Sie sind politisch und in der Friedensfrage zu gegensätzlich.“ Auch wenn die Palästinenser erneut Wahlen abhalten, werde sich an der Situation nichts ändern. „Die Hamas wird wieder gewinnen, und wir haben die gleichen Probleme wie vorher.“ Beide Fraktionen hatten sich in der Nacht zu Montag darauf geeinigt, die Kämpfe einzustellen, die seit Ende vergangener Woche drei Tote und viele Verletzte forderten. Auslöser der neuen Unruhen war die Entscheidung von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, vorgezogene Neuwahlen einzuleiten, was die Hamas ablehnt.

Bis in die Abendstunden hielt die Waffenruhe an, von ein paar kleineren Zwischenfällen im Gaza-Streifen abgesehen. Die beiden Fraktionen einigten sich auf eine Wiederaufnahme der Verhandlungen zur Bildung einer Regierung der nationalen Einheit. Zudem sollen die demonstrativ an den Verkehrszentren postierten Kämpfer abgezogen und alle Entführten freigelassen werden. Eine Kommission soll ferner die Kämpfe untersuchen.

Jamil Rayyan leitet die Boutique seines Vaters im Stadtzentrum von Ramallah. Erst vor einem Jahr ist er seinen inzwischen hilfsbedürftigen Eltern zurück in ihre Heimat gefolgt, nachdem er die meiste Zeit seines Lebens in Brasilien verbrachte. Ginge es nach ihm, würde er die Eltern am liebsten gleich wieder nach Brasilien bringen. „Die Lage hier wird dem Chaos im Irak jeden Tag ähnlicher“, sagt er. Überall in der Stadt trieben bewaffnete Banden ihr Unwesen. „Hier hat jeder seine Knarre“, schimpft er und macht Abbas dafür verantwortlich, dass die illegalen Pistolen und Gewehre nicht längst konfisziert wurden.

In Ramallah sind die vermummten Hamas-Kämpfern, die die Straßen im Gaza-Streifen demonstrativ beherrschen, eher selten. Stattdessen sind die von der Fatah kommandierten Sicherheitskräfte präsent. Ein Mitte vierzigjähriger Anhänger des „Muchaberad“, des Geheimdienstes, stellt sich als Nasser vor und will seinen Familiennamen nicht nennen. Der in Zivil gekleidete Sicherheitsoffizier findet die Idee von Neuwahlen gut. „Wir (die Fatah) werden beim nächsten Mal gewinnen“, ist er sich sicher. Nur so sei die internationale Isolation zu beenden.

Nachdem die westlichen Geberländer die palästinensische Aufbauhilfe auf Eis legten, stellte die Autonomiebehörde im März die regelmäßigen Gehälterzahlungen ihrer Beschäftigten ein. „Das ist der Grund für unsere Krise“, erklärt Nasser. „Wir arbeiten, aber sie (die Regierung) bezahlt nicht. Wir müssen doch essen.“ Ein Verkehrspolizist, der das Gespräch mit anhört, mischt sich ein: „Wir arbeiten nur, damit (Premierminister Ismail) Hanijeh glücklich ist“, sagt er sarkastisch und zieht seine Stromrechnung aus der Hosentasche. Ganze 119 Schekel, umgerechnet rund 20 Euro, ist er dem Elektrizitätswerk schuldig. Er hat das Geld nicht und sitzt seit ein paar Tagen im Dunkeln.

Auch Nasser hegt seine Zweifel daran, ob der Waffenstillstand halten wird. „Wir wollen nicht kämpfen“, sagt er bestimmt, aber „die Lage ist wirklich kompliziert.“ Noch bestehe Hoffnung, dass die Koalitionsgespräche zu einer Lösung führen werden. Dazu wäre eine für beide Seiten akzeptierbare Formel für die Anerkennung Israels nötig. Doch erst in der vergangenen Woche hatte Premierminister Hanijeh im Verlauf seiner Iranreise wiederholt, dass eine „von der Hamas geführten Regierung Israel niemals anerkennen wird“.

Trotz der scharfen Opposition der Hamas gegen die geplanten Neuwahlen will Palästinenserpräsident Abbas daran festhalten. Die Situation „ist sehr gefährlich“, meinte Abbas im Gespräch mit dem britischen Premierminister Tony Blair, der gestern Ramallah besuchte.

Abbas appellierte an die internationale Gemeinschaft, Anstrengungen zu unternehmen, um eine Lösung für den arabisch-israelischen Konflikt voranzutreiben. „Wir (Israel und die Palästinenser) brauchen einander“, meinte Abbas. Vor allem mit Blick auf die geplanten Neuwahlen könnten diplomatische Fortschritte der Fatah nur von Nutzen sein.