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Archiv-Artikel

Verlassene Katia, braves Kind

Ihre Eltern kommen ab und zu auf Besuch. Sie haben dann keine Zeit für ihre Kinder, sie müssen bauen.Dann geht’s zurück nach Italien

AUS COROD KENO VERSECK

„Hast du die Mama lieb?“, fragt die Großmutter.

„Ja“, antwortet Katia gehorsam. Sie blickt verschämt zu Boden, ein dreijähriges Mädchen mit bernsteinfarbenen Augen und aschblondem Haar.

„Und? Wo ist die Mama?“, fragt die Großmutter.

„In Italien“, sagt Katia.

„Und warum ist die Mama da?“

„Sie bringt mir Spielzeug. Und Bonbons.“

„Und warum ist sie noch da? Sie arbeitet, damit sie das Haus weiter bauen kann, nicht wahr?“

„Ja“, antwortet Katia. Dann schmiegt sie sich an ihre Großmutter. „Du bist ein braves Kind“, sagt die zärtlich und streichelt Katia über den Kopf.

Hauptstraße Nr. 50 in Corod, Ostrumänien. Paraschiva Sandu und ihre Enkelin wohnen in einem niedrigen, alten Bauernhaus. In den drei kleinen Zimmern steht nicht viel. Betten, Tische, ein Schrank, zwei Fernseher, an den Wänden hängen Heiligenbildchen. Im Hof gibt es einen Gemüsegarten, Hühner und Kaninchen rascheln durch das Gestrüpp vertrockneter Tomaten- und Paprikapflanzen.

Katia weiß, dass sie Eltern hat. Ihre Großmutter erzählt es ihr fast jeden Tag. Katias Mutter Vasilica arbeitet seit Jahren als Barfrau in Italien, Marcel, der Vater, auf dem Bau. Katia lebt bei ihrer Oma, seit sie vier Monate alt ist. „Sie kennt ihre Eltern nicht besonders gut“, sagt Paraschiva Sandu. „Wenn sie kommen, spielt sie auch mit ihnen oder geht mit ihnen spazieren. Aber meistens hängt sie doch an meinem Rockzipfel.“

Zuletzt waren Katias Eltern vor sechs Monaten zu Hause, für zwei Wochen, vielleicht kommen sie noch einmal zu Weihnachten für ein paar Tage. Als sie nach ihrem letzten Besuch wieder abgefahren sind, mit dem Linienbus im Dorf, der zweimal in der Woche die Tour Corod–Padua macht, schlief Katia gerade. „Später ist sie aufgewacht, und wir haben gespielt“, sagt Paraschiva Sandu, „sie hat nicht gefragt, wo ihre Eltern sind.“

In Corod leben viele Kinder, die ihre Eltern nur als entfernte Verwandte kennen. Von den 11.000 Einwohnern der Gemeinde arbeiten ungefähr die Hälfte als Gastarbeiter in Italien, schätzt man im Bürgermeisteramt. Viele Arbeitsemigranten lassen ihre Kinder im Dorf zurück. Bei den Großeltern, bei Verwandten, bei Nachbarn.

„Generation Alleingelassen“ heißt Rumäniens neues Kinderproblem. Erfunden hat das Schlagwort für die Kinder, die ohne Eltern aufwachsen, die Bukarester Tageszeitung Evenimentul zilei. Inzwischen ist es unter rumänischen Soziologen und Psychologen ein feststehender Begriff. Seit viereinhalb Jahren dürfen die RumänInnen visafrei in die meisten EU-Staaten einreisen. Viele haben diese Möglichkeit genutzt, um im Ausland auf Jobsuche zu gehen. Mehr als zwei Millionen Rumänen arbeiten in EU-Ländern, viele in Italien und Spanien, die meisten illegal. Unzählige haben ihre Kinder zurückgelassen. Rumänische Behörden gehen von mehr als zehntausend Fällen allein in der Moldau aus, Rumäniens Armenhaus im Osten und Nordosten des Landes.

Mitarbeiter von Sozial- und Bildungseinrichtungen im Land sind alarmiert. Lehrer klagen über Lernschwierigkeiten zurückgelassener Kinder, die Polizei verzeichnet eine steigende Jugendkriminalität, Angestellte von Kinderschutzämtern berichten über vergessene Kinder, deren Eltern unauffindbar sind.

Im März dieses Jahres schockierte die Geschichte des 11-jährigen Razvan Suculiuc die rumänische Öffentlichkeit. Der Junge aus dem Dorf Deleni im nordostrumänischen Kreis Iași lebte allein mit seinem psychisch labilen, alkoholkranken Vater, die Mutter arbeitete in Italien. Aus Sehnsucht nach ihr erhängte sich Razvan in der Küche seines Elternhauses.

Katia hat Glück. Paraschiva Sandu kümmert sich liebevoll um ihre Enkelin. Sie spielt viel mit ihr, antwortet geduldig auf alle Fragen. Katia ist ein aufmerksames, neugieriges Kind, sie weicht kaum von der Seite ihrer Oma, und die nimmt sie überall mit hin.

Die 49-Jährige sieht aus wie Mitte sechzig, sie ist spindeldürr. Früher, bevor sie an Diabetes erkrankt ist, hat sie in der Dorfkooperative gearbeitet, mal als Erntehelferin, dann wieder beim Melken im Kuhstall, was gerade anfiel. Sie hat fünf Kinder geboren, drei von ihnen und ihr Mann arbeiten in Italien. Ein Sohn und eine Tochter wohnen noch bei ihr, aber auch sie wollen bald Richtung Westen aufbrechen, der Arbeit hinterher. Paraschiva Sandu bekommt 25 Euro Rente im Monat, ihr Mann und die Kinder schicken Geld. „Früher, unter Ceaușescu, gab es für alle Arbeit“, sagt Paraschiva Sandu, „wir waren zusammen. Und jetzt? Kaum ist das Geld alle, fahren alle nach Italien, und ich ziehe die ganzen Enkel groß. So hat das alles kein Ende mehr.“

Corod ist ein Dorf voller halbfertiger Häuser. Es sind die Häuser der Leute, die in Italien arbeiten, die „stranierii“, wie sie hier nach dem italienischen Wort für Ausländer genannt werden. Sie kommen ein-, zweimal im Jahr für ein paar Wochen. Sie haben nicht viel Zeit für ihre Kinder. Sie müssen an ihren Häusern weiterbauen. Dann fahren sie wieder nach Italien.

Auch der Bürgermeister von Corod, Vasile Cârjeu, hat früher in Italien gearbeitet, schwarz, wie er betont. Das war 1991/92. Knapp ein Jahr schuftete er in Mailand auf dem Bau, zusammen mit zwölf anderen Leuten aus dem Dorf. Der italienische Vorarbeiter beschimpfte den rumänischen Trupp „wegen unsachgemäßer Toilettenbenutzung“, erzählt Cârjeu pikiert, „er hat uns behandelt wie Wilde“.

Die stranierii bringen der Gemeinde viele Vorteile, sagt der 50-jährige Bürgermeister in seiner breiten moldauischen Mundart, in der viele Diminuitive vorkommen. „Sie kehren mit hübschen Sümmchen zurück, bauen sich Häuschen und machen kleine Unternehmen auf.“

Und die alleingelassenen Kinder? „Ja“, sagt der Bürgermeister gedehnt und wiegt den Kopf, „das ist ein Nachteil. Aber wissen Sie, immer mehr Eltern sehen das ein und nehmen ihre Kinder mit nach Italien.“

„Manche Großeltern schaffen es einfach nicht, auf ihre Enkel aufzupassen, sie sind zu alt und überfordert“, sagt die Direktorin der Dorfschule, Maria Vasu, 55. Seit drei Jahrzehnten unterrichtet sie Chemie und Physik. „Die Kinder der Gastarbeiter sind meistens Problemkinder, sie bleiben sitzen oder schwänzen. Wir haben ein spezielles Programm für sie, den Wochenendklub, wo sie lernen, ihre Freizeit sinnvoll zu gestalten.“ Maria Vasu seufzt. Sie klingt nicht sehr zuversichtlich.

Italien? Silvia Jalbă möchte nicht weinen, aber sie kann nichts machen, die Tränen fließen einfach. Fünf Jahre lang hat sie in Brescia in der Nähe des Gardasees gearbeitet, erst in einer Sockenfabrik, dann als Mädchen für alles in Supermärkten. Es verging kaum ein Tag, an dem nicht jemand miese Bemerkungen über Ausländer machte oder an ihrer Arbeit herumnörgelte. Die ganze Zeit musste sie an Marius denken, ihren Sohn, den sie im Dorf zurückgelassen hatte. „Ich würde nicht mal mehr in den Urlaub nach Italien fahren“, sagt sie schluchzend.

Silvia Jalbă ist eine blonde, rundliche Frau, 31 Jahre alt. Vor elf Jahren, sie war frisch verheiratet und Marius gerade vier Monate alt, ging ihr Mann Mitică nach Italien, um auf dem Bau zu arbeiten. „In diesem Sommer ist nichts richtig gewachsen im Gemüsegarten“, erzählt sie. „Mein Mann musste nach Italien. Unser Haus war sehr alt, und wir hatten überhaupt keine Perspektive hier im Land.“ Anderthalb Jahre lang sah sie ihren Mann überhaupt nicht. Als er endlich zurückkam, sagte sein Sohn „Onkel“ zu ihm. Silvia Jalbă kümmerte sich um Marius, bis er fünf war, dann folgte sie Mitică nach Italien. Marius blieb bei der Oma. „Er war sehr verständig und brav“, sagt Silvia Jalbă. „Aber wir haben uns gequält, wir dachten, die Trennung macht uns alle krank.“

Vor drei Monaten sind die beiden Jalbăs nach Rumänien zurückgekehrt, anders als viele Freunde und Verwandte aus dem Dorf endgültig. Silvia Jalbă hat es nicht mehr ausgehalten. Das neue Haus der Familie ist fast fertig, es ist groß, komfortabel, zwei Etagen mit sechs Zimmern und zwei Bädern. Zwischen den Bauernhütten der Nachbarn sieht es aus, als sei es zufällig aus einer fernen Galaxie hier abgesetzt worden. Mitică Jalbă hat es fast allein gebaut.

Der stämmige 38-Jährige arbeitet jetzt als Handwerker für andere Leute im Dorf. Demnächst will er eine eigene Firma gründen. „Ich hoffe, ich kann davon leben“, sagt er. „Anfangs werde ich natürlich nicht dasselbe verdienen wie in Italien, aber mit der Zeit werden vielleicht auch hier die Gehälter steigen.“

Marius ist ein schüchterner, stiller Junge, er sieht wirklich brav aus. Er möchte nicht darüber sprechen, wie es war, jahrelang ohne Mutter und Vater zu leben. Er will Anwalt werden, sagt er, Anwälte machen Gerechtigkeit und verdienen viel Geld. Silvia Jalbă wiegt seinen sechs Monate alten Bruder Angelo im Arm, sie hat ihn noch in Italien geboren. Silvia schaut Marius an, Marius schaut Silvia an, es sind Blicke, als müssten die beiden sich erst noch kennenlernen.

Silvia Jalbă unterdrückt ihre Tränen. „Ich hoffe“, sagt sie, „dass Marius eines Tages verstehen wird, dass wir das auch für ihn getan haben.“