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Archiv-Artikel

Hosen auf Halbmast

Coole Gangsta, fette Hiphopper, klagende Lehrer und ein Buttergesicht

„Das ist kein Quatsch. Gangsta sind cool. Die laufen nicht weg“

Wir fuhren durch Brooklyn und wollten eine Freundin abholen, die am Rande von Flatbush wohnt. Das Erste, was an dem Schwarzenviertel auffällt, sind die Polizisten. Sie sind die einzigen Weißen weit und breit. An jeder Ecke steht ein Paar. Zwei Weiße oder ein Weißer und ein Schwarzer oder eine Weiße und ein Schwarzer. Aber nie zwei schwarze Cops. Damit sie sich nicht verbrüdern können.

Die dunklen Uniformen sind eng geschnitten, und am Gürtel hängen die sichtbaren Waffen: ein armlanger Schlagstock, eine Tränengas-Patrone und ein wuchtiger Revolver. Die Niggaz hingegen tragen extrem weite Hemden und Hosen, die um ihre aufreizend lässigen Körper schlackern. Polizisten und Passanten haben nur eins gemeinsam: Während in Manhattan ein rasantes Tempo vorherrscht, bewegen sich in Flatbush alle wie in Zeitlupe. Eine schnelle Bewegung kann tödlich sein. Denn am Körper trägt jeder den Tod im Stahlmantel.

Auf der Party in Uptown stand ich in einer buntgemischten Small-Talk-Gruppe mit Michael Ballhaus, einigen Magnum-Fotografen und einer ebenso reichen wie weltfremden Central-Park-Anwohnerin. Ein echtes Buttergesicht, ein „Butterface“, wie ein Gangsta im Slang sagen würde: tolle Figur, but her face …

Der nicht ganz unbekannte deutsche Spitzen-Kameramann hatte gerade eine Anekdote von seinen letzten Dreharbeiten erzählt, als ihn die Dame in Weiß fragte: „Sagen Sie? Ballhaus? Sind Sie nicht im Immobiliengeschäft?“ Michael Ballhaus stutzte nur kurz, er war erfahren genug im Umgang mit ignoranten Amerikanern. In seiner vornehmen Art antwortete Ballhaus höflich, dass er „director of photography“ sei und gerade einen Gangsterfilm mit dem Regisseur Martin Scorsese drehte. Noch heute Nachmittag habe man eine Szene mit Matt Damon und Leonardo DiCaprio fertiggestellt. Bevor er sich wieder den Kollegen zuwandte, aber rächte sich Ballhaus auf subtile New Yorker Weise: „Leonardo DiCaprio wollte eigentlich auch mit mir zur Party hierher kommen, aber dann war er doch zu müde.“ Vor Promigeilheit und Beschämung tränten der naiven Lady die Augen.

Ich sah „The Departed“ jetzt im Kino. Eine der besten Arbeiten von Scorsese und Ballhaus seit Jahren. Ich verließ die Gangsterwelt, um in Schöneberg auf eine Geburtstagsparty zu gehen, wo ich in eine Small-Talk-Gruppe geriet, die von einer zauseligen Berliner Lehrerin dominiert wurde, die in den Siebzigerjahren stehen geblieben war und deshalb Zigaretten selbst drehte, damit alle Welt glaubte, sie sei arm wie eine Dorfschullehrerin. Statt vernünftigerweise sofort wegzugehen, hörte ich trotzig zu, wie sie mit röhrender Stimme ihrem Lieblingssport nachging: zu klagen. Erst in zwei Wochen seien Ferien, und sie sei dermaßen urlaubsreif, habe aber immer noch keine Reise buchen können. „Eigentlich wollte ich ja nach Marokko, da war ich dieses Jahr zwar schon, und in Spanien, und in Portugal, und …“

Plötzlich wurde sie abgelenkt von drei jungen Hiphoppern mit fetten Ketten, die vorbeischlurften und ihre Hosen so tief auf Halbmast in den Kniekehlen hängen hatten, dass ihnen hinten die Maurer-Dekolletés herauslugten. Von der nun auch schon nicht mehr ganz jungen Modetorheit war die Lehrerin ungemein gefesselt, offenbar hatte sie das Phänomen soeben erst entdeckt.

„Ich frage mich, warum die ihre Hosen so komisch tragen?“, dröhnte sie, und unglücklicherweise überkam mich nun ein altes Männerleiden: Männer erklären Frauen gern mal was. „Ich kann es dir sagen, wenn du willst?“ Eher unwillig nickte sie. Forsch dozierte ich los: „Das stammt aus dem Gangsta-Hiphop. Die schwarzen Gangsta tragen ihre Hemden und Hosen so weit wie möglich, damit sich die Waffen, die sie am Körper tragen, nicht unter der Kleidung abzeichnen.“ Spöttisch sah mich die Lehrerin an: „Gangster? Das ist doch Quatsch! Damit können die doch gar nicht weglaufen.“ Weglaufen! Auf solch eine Idee konnte nur eine Lehrerin kommen. Oder wie es der alte Hiphopper Goethe sagte: „Hypothesen sind Wiegenlieder, womit der Lehrer seine Schüler einlullt.“

Tatsächlich zwangen in den USA die weißen Gefängniswärter die schwarzen Gefangenen dazu, solch lächerlich weite Hosen zu tragen, damit sie nicht fliehen konnten. Wer aber einmal im Knast gesessen hatte, trug die „Baggy Pants“ nun draußen als Abzeichen. Was ich dem blinden Lehrerhuhn, das zufällig ein Korn Wahrheit gefunden hatte, sicher auch hätte bestätigen können. Aber leider hatte ich nicht die Ballhaus‘sche Schule der Diplomatie besucht: „Das ist kein Quatsch. Gangsta sind cool. Die laufen nicht weg. Die einzige schnelle Bewegung, die sie in ihrem Leben machen, ist, wenn sie ihre Waffe ziehen. Gangsta schießen zuerst und stellen dann die Frage, ob sie zufällig von einer Kugel getroffen worden sind.“ Ungerührt fegte die Lehrerin meinen Erklärungsversuch mit einem knappen „Ach was!“ beiseite – und schon war sie wieder auf ihrer marokkanischen Traumreise.

Es gibt ein Vorurteil, das besagt, die meisten Lehrer sind absolute Volltrottel. Das Verblüffende an diesem Vorurteil ist, dass es sich immer wieder bestätigt. Die meisten Lehrer sind tatsächlich absolute Volltrottel. Denn sie leiden zugleich an Selbstmitleid und Selbstüberschätzung. Eine Krankheit, von der ansonsten allenfalls noch Palästinenser befallen sind.

Lehrer haben die meiste frei verfügbare Zeit, beklagen sich jedoch stets über mangelnde Möglichkeiten. Dabei sind sie ständig auf Reisen, um dann am Ziel allerdings auf etwas Erschreckendes zu treffen: sich selbst. Wen wundert es da, dass Lehrer eben Lehrer sind? MICHAEL RINGEL