Zügellose Goldgräber

RETROSPEKTIVE Es gab eine Zeit in Hollywood, da waren die Ladys tough, die Dialoge geistreich und die Witze derb. Das Arsenal-Kino erinnert daran mit der Reihe „Let’s Misbehave! – Hollywood vor dem Hays-Code 1930–1934“

William A. Wellman wird zum Regisseur sozialer Dramen, die sich mit der Chancenlosigkeit der Underdogs, mit den zerbrochenen Mythen von Arbeit, Wettkampf und Erfolg auseinandersetzen

VON HELMUT MERKER

Lil Andrews ist ein fröhlicher Wirbelwind und will nach oben. Um aus ihren armseligen Verhältnissen herauszukommen, stürzt sie sich auf ihren verheirateten Boss. Erst heiratet sie ihn, später schießt sie auf ihn, als sie eine andere Verbindung im Auge hat.

Lily Powers ist ein entschlossener Tramp und will nach oben. Sie entkommt der Spelunke ihres Vaters und klettert auf einen Güterzug nach New York. Der Job bei einer Bank wird ihr Sprungbrett, ständig wechselt sie ihre Liebhaber, die sich dann auch noch aus Eifersucht gegenseitig erschießen. Das macht den Weg zum Präsidenten der Bank frei.

Zwei Frauen, gespielt von Jean Harlow in „Red-Headed Woman“ (Regie: Jack Conway, 1932) und Barbara Stanwyck in „Baby Face“ (Regie: Alfred E. Green, 1933). Zwei „Gold Diggers“, die sich mit allen verfügbaren Mitteln aus der beruflichen Sackgasse hinauskatapultieren wollen. Zwei Schicksale, mit denen sich die Zuschauerinnen der Depressionszeit identifizieren konnten.

„Let’s Misbehave!“ ist das Motto der Retrospektive mit amerikanischen Filmen der Jahre 1930 bis 1934, die das Arsenal-Kino ab heute präsentiert. Den Spaß, sich danebenzubenehmen, die Lust, mit Sex und Gewalt zu provozieren, merkt man ihnen an. Wenn die Stanwyck beim Vorstellungsgespräch gefragt wird, ob sie denn Erfahrungen für den Job mitbringe, lächelt sie anzüglich und antwortet: „Reichlich“. Ein Werbeslogan für den Film zielt unmissverständlich auf ihre Taktik: „She climbs the ladder of success – Man by Man“ („Sie klettert auf der Erfolgsleiter nach oben – Mann für Mann“). Besonders amüsant dabei in einer Zweiminutenszene: John Wayne in der Rolle eines adretten Bürojungen mit Schlips und Kragen.

Barbara Stanwyck gehört seit Beginn ihrer Karriere zu den „tough“ auftretenden Hollywood-Ladys, ohne ihre Weiblichkeit aufzugeben. Ein Vierteljahrhundert später herrscht sie dann in der Rolle der „High riding woman with the whip“ in Sam Fullers Western „Forty Guns“.

Deshalb ist es der reine Hohn, sie unter dem Titel „Baby Face“ ins Rennen zu schicken, auch wenn ihr der zynische Schlussauftritt noch genommen wurde. In der ursprünglichen Fassung von Alfred E. Greens Film treibt sie nämlich den Bankpräsidenten, der sie liebt, in Ruin und Selbstmord, weil sie ihre Juwelen nicht für ein Darlehen einsetzen will. Das aber wurde zu einem versöhnlichen Happy-End gemildert, in dem sie ihr Vermögen spendet, der Liebe und der Bankgeschäfte wegen.

Besser als „Baby Face“ erging es da ein Jahr zuvor der „Red-Headed Woman“: Jean Harlows Figur bleibt von sittlichen Bedenken und moralischer Läuterung verschont, sie verlässt New York, wo ihr der Boden zu heiß geworden ist, und vergnügt sich am Ende mit einem steinreichen Marquis in Paris.

Diverse Skandale unter den Filmgrößen hatten in den „roaring twenties“ die Hollywood-Moguln verunsichert. Nun drohten staatliche Eingriffe; daher engagierten die Studios Will Hays, einen Wahlkampfchef der Republikaner mit guten Kontakten zu den Moralhütern Amerikas, beschlossen einen „Production Code“ und gerieten damit alsbald statt in den Regen staatlicher Zensur in die Traufe „freiwilliger“ Selbstkontrolle. Fortan durften kriminelle Handlungen nicht heroisiert, sexuelle Perversionen nicht gezeigt werden, Homosexualität war ebenso tabu wie ein Angriff auf die Institution der Ehe. Als Richtlinie bestand dieser Hays-Code bereits 1930, verbindlich wurde er 1934. Insofern ist die Bezeichnung der Retrospektive im Arsenal-Kino – „Hollywood vor dem Hays-Code 1930–1934“ – nicht ganz genau, denn die Regeln wurden bereits in diesen Jahren durchgesetzt.

Vor allem aber auch lust- und fantasievoll umgangen. Am elegantesten gelingt das Ernst Lubitsch mit seinen Screwball Comedies („Trouble in Paradise“, „Design for Living“), deutlich derber setzt sich das Paar Mae West/Cary Grant über den verordneten Anstand hinweg („I’m No Angel“; „She Done Him Wrong“). Das sind vier Filme der Paramount, die mit geistreichen Dialogen und snobistischem Ambiente vor allem auf die Upperclass zielten; MGM stellte sich als das Studio mit „More stars than in heaven“ dar. Die Warner Brothers hingegen wandten sich mehr dem irdischen Kampf ums Dasein in Zeiten der Depression zu.

William A. Wellman wird zum Regisseur sozialer Dramen, die sich mit der Chancenlosigkeit der Underdogs, mit den zerbrochenen Mythen von Arbeit, Wettkampf und Erfolg auseinandersetzen. In „Night Nurse“ werden die von Barbara Stanwyck und Joan Blondell gespielten Krankenschwestern durch eine Reihe morbider Momente gejagt: mit einem drogensüchtigen Arzt, einer betrunkenen Mutter, einem sadistischen Chauffeur (Clark Gable), einem Skelett im Bett, einer Kugel im Schädel eines Kriminellen.

„Wild Boys of the Road“ und „Heroes for Sale“ zeigen Jugendliche und Erwachsene im Kampf gegen die staatliche Gewalt. Das wird sogar im Musical „Gold Diggers of 1933“ (Regie: Mervyn LeRoy, Choreografie: Busby Berkeley) zum Thema. Am Anfang tanzen die Chorus-Girls in Kostümen aus Dollarmünzen einen bizarr erotischen Tanz ums Goldene Kalb des Kapitalismus, Ginger Rogers singt „We are in the money“, und der Sheriff lässt die Bühne stürmen, weil der Produzent kein Geld mehr hat, seine Schulden zu bezahlen. Am Ende marschiert eine lange Reihe graue Arbeitsloser in den Krieg, Joan Blondell singt „Remember my forgotten man“. Dazwischen und immer wieder: Sex als Mittel zum Zweck, für Karriere, Geld und Macht.

Als entschlossenste Kämpfer gegen die ungerechten Besitzverhältnisse erobern sich die Gangster ihren Platz in den Filmen dieser Jahre. Mervyn LeRoys „I Am a Fugitive from a Chain Gang“ und „Little Caesar“ sowie „20.000 Years in Sing Sing“ von Michael Curtiz und „The Public Enemy“ von William Wellman zeigen den Verbrecher als Resultat eines korrupten Rechts- und Gesellschaftssystems. Allein die berühmte Szene, in der James Cagney seiner Freundin die halbe Grapefruit ins Gesicht drückt, war so skandalös, dass sie ein paar Jahre später nicht mehr durch die Zensur des Hays-Codes gegangen wäre. Der Wirbelwind James Cagney bringt vor allem auch die Komödien auf Touren. All diese Filme sind rasant und realistisch, großstädtisch und gewalttätig, unsentimental und zügellos.

Eigentlich gehören hier auch der epochale Gangsterfilm „Scarface“ mit den Morden als Fließbandarbeit und die Komödie „Twentieth Century“ mit den Dialogen im Maschinengewehrrhythmus dazu; aber erstens zeigte das Arsenal-Kino schon im letzten Jahr eine Howard-Hawks-Retro, zweitens könnte man statt der 30 Filme sowieso auch 130 zeigen, und drittens gibt es dafür eine ganze Reihe nahezu unbekannter Filme wie etwa „Two Seconds“ von Mervyn LeRoy, über den ein amerikanische Kritiker schrieb: „Einer der gewandtesten, dunkelsten und wirkungsvollsten Filme, die Hollywood uns je geschenkt hat. Er kombiniert die Effizienz von Warner Bros. mit der emotionalen Wucht des frühen bis mittleren Bergman und der expressionistischen Unerbittlichkeit des deutschen Kinos.“

■ „Let’s Misbehave! Hollywood vor dem Hays-Code 1930–1934“. Arsenal-Kino, 19. Juni bis 31. Juli