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Archiv-Artikel

In der großen Kuhle

KREUZBERG Volker Meyer-Dabischs Dokumentarfilm „Der Adel vom Görli“ schaut dem Laisser-faire im Görlitzer Park zu. Doch statt bei seinen Protagonisten nachzuhaken, romantisiert er leider lieber

Sie sind unten angekommen, aber hier geht es ihnen gut, die Treffen im Park eröffnen Möglichkeiten

VON NINA SCHOLZ

Orte, die Berliner ganz besonders lieben, werden oft mit einem i abgekürzt. So wird das Kottbusser Tor zum Kotti, der Boxhagener Platz zum Boxi und der Görlitzer Park zum Görli. Der Görlitzer Park ist, neben der Hasenheide, Kreuzbergs wichtigster Park und das Herzstück des ehemaligen Postzustellbezirks 36, jenem mythenumwobenen Teil Berlins, mit dem auch heute noch Dagegensein und Dosenbier in Verbindung gebracht werden, auch wenn man in den Straßen immer mehr modische Architekturstudenten aus Kopenhagen und Buxtehude sieht.

Der Görli ist ein besonderer Ort: Er wird, wie die meisten Parks in Berlin, nie verschlossen. Aufgrund seiner exzessiven Nutzung gleicht er in den Sommermonaten dann auch eher einer Tundra als einem gepflegten Landschaftspark. Im Görli wird gegrillt, gechillt, getrunken und geravt. Ein Haupttreffpunkt ist die große Kuhle, wo früher der Eingang zum Görlitzer Bahnhof war. Im oberen Teil trifft sich bei schönem Wetter fast täglich „der Adel vom Görli“, eine mehr oder weniger fest zusammengehörende Gruppe von Freunden und Bekannten, um die es in Volker Meyer-Dabischs gleichnamigem Dokumentarfilm geht.

Ob sie sich selber so getauft haben oder andere das waren, erfährt man nicht. Man erfährt aber, dass sie so heißen, weil sie meistens blau sind. Der Adel, das sind die Frisbeespieler Alberto und Sputnik, der Gitarrenspieler Lupo, die Cross-Golfer Stonebiter, Burnie und Steve, Antonio mit dem Techno-Soundsystemwagen und noch ein paar andere. Sie sind unten angekommen, aber hier geht es ihnen meistens gut, die Treffen im Park eröffnen Möglichkeiten. Der Görli ist ihnen Naherholungsgebiet und Sicherheitsnetz zugleich.

Meyer-Dabisch präsentiert seine Protagonisten mit viel Freundlichkeit. Die Stimmung an einem Sommertag im Park hat er perfekt eingefangen: Es wird viel dahergeredet und manches besser dargestellt als es sich vielleicht morgens anfühlt, wenn man verkatert in der eigenen Wohnung aufwacht. Leider unterschlägt der Regisseur die Schattenseiten der Erzählungen seiner Protagonisten, er hakt insgesamt zu wenig nach.

Man ahnt, wie schlecht es Lupo oft geht, wenn er sagt: „Hier sind doch alle süchtig.“ Doch was das genau bedeutet, erfährt man leider nicht. Burnie erzählt, wie ein Freund von ihm mit einer Axt erschlagen worden ist, neben ihm, als die beiden im Park übernachtet haben, und dass er noch heute traumatisiert ist.

Der Adel redet gerne von der Freiheit. Doch wenn Stonebiter und Steve erzählen, dass Kiffen und Trinken okay seien, sie aber aufpassen würden, dass diejenigen, die „Pulver“ konsumieren, nicht in den Park kommen, wäre die Frage angebracht gewesen, wo ihre eigene Freiheit aufhört und die der anderen aufzuhören hat.

An diesem Punkt verpasst der Film seine Chance. In den kleinen Interviews, die die Gespräche mit dem Adel umrahmen, blitzt auf, was der Film gekonnt hätte, wenn zum Beispiel der türkische Eisverkäufer erklärt: „Die Türken haben hier zuerst gegrillt. Und dann haben es die Deutschen auch gemacht. Die haben sich in Kreuzberg integriert.“ Das sind die Momente, in denen Humor und Ambivalenz zutage treten, in denen die Widersprüche offensichtlich werden.

Der Adel vom Görli dagegen ist ein Denkmal für seine bekanntesten Besucher geworden, ein schönes dazu, nur leider ist ein Denkmal eine denkbar ungünstige Form für einen Film. Volker Meyer-Dabisch ist zu sehr darauf bedacht, seine Protagonisten mit Samthandschuhen anzufassen.

Deshalb gehen ihm die eigentlichen Geschichten durch die Lappen: Der Film hätte zeigen können, dass das schöne Leben, für das Berlin so berühmt ist, seinen Preis hat, nämlich den, dass viele keine Jobs haben und kein Geld.

Er hätte zeigen können, dass in Berlin ein Kampf tobt, ein Kampf namens Gentrifizierung, in dem es darum geht, wer bleiben wird, wer kommt und wer geht. Ein Kampf, der so kompliziert ist, weil irgendwie alle recht haben, und der trotzdem auf Kosten von Menschen wie den Protagonisten des Films gehen wird.

■ „Der Adel vom Görli“. Regie: Volker Meyer-Dabisch. Dokumentarfilm, Deutschland 2010, 70 Min.