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Archiv-Artikel

Landschaft: Das Kino im Kopf

Die von Lucius Burckhardt erfundene Spaziergangswissenschaft warnt: Verwechselt Natur nicht mit Landschaft, denn die reproduziert nur kulturell gewachsene Normen

Was bitte ist Spaziergangwissenschaft? Lernt man, wie der ideale Rucksack gepackt sein muss und was ins Fresspaket für die Wegzehr gehört? Wie sich der Spazierlustige in Stadt und Land orientiert, die Himmelsrichtungen anhand des Moosbewuchses erkennt und die Karte einnordet? Nichts von alledem.

Der Stadtplaner und Soziologe Lucius Burckhardt (1925–2003), der aussah, als hätte ihm seine Frau Annemarie die Haare geschnitten, sprach 1990 in einem Antrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft erstmals von der Spaziergangswissenschaft als seinem Forschungsschwerpunkt. Dabei ging es ihm um eine Karikatur des Flanierens, und zwar aus einer ironischen, analytischeren Haltung heraus: spazieren vom Kopf her als Dekonstruktionsübung vorgefertigter Wahrnehmung.

Der Promenadologe Burckhardt wird häufig als Soziologe und Kunsthistoriker bezeichnet – aber diese Definitionen sind etwas ungenau. Burckhardt studierte in den 40er-Jahren in Basel Medizin und Nationalökonomie. Als er Wind bekam von dem damaligen Korrektionsplan der Stadtverwaltung, nach dem die halbe gotische Altstadt zugunsten des Autoverkehrs abgerissen werden sollte, wollte er das mit einem grundvernünftigen Ansatz verhindern: „Lasst doch 30 Jahre vergehen, bis sich dieser Autorausch gelegt hat!“ So gründete er schon 1949 eine Art Bürgerinitiative avant la lettre und verhinderte einen Teil der geplanten Abrisse. Aber lange noch war er immer wieder der Einzige, der für Bürgerbeteiligung in Stadtplanungsdingen eintrat.

Burckhardt bildete sich zum Soziologen weiter und wurde Gastdozent an der renommierten Gestaltungshochschule in Ulm. Mit seinem akkuraten und gleichzeitig eingängigen Schreibstil publizierte er sowohl in Fachzeitschriften als auch in populären Magazinen. In seinem Aufsatz „Was erwartet der Bürger von der Stadtgestalt?“ stellte er die Forderung, dass Design unsichtbar zu sein habe und an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet: „Das beste Design für eine Straßenbahn ist, wenn sie auch nachts fährt.“ Sein Credo für modernisierenden Stadtumbau war die „interventio minima“, also der kleinstmögliche Eingriff im Gegensatz zu den von den meisten Architekten bevorzugten Tabula-rasa-Ansätzen.

1972 wurde Burckhardt Professor in Kassel. Auf seinem extra für ihn erfundenen Lehrstuhl erforschte er die wechselseitigen Einflüsse von Politik, Mensch und Umwelt – ausgerechnet in der im Zweiten Weltkrieg fast komplett zerstörten Stadt, die anschließend nach Nazi-Plänen autogerecht wieder aufgebaut wurde. Als Vorsitzender des Deutschen Werkbundes (1977–1982) agierte er in seiner Themensetzung durchaus wegweisend: Mitbestimmung, Ökoarchitektur, Regionalismus im Bauen. Der Keim für die Spaziergangswissenschaft, die er später erfand, lag schon in diesen Interessen. Näher rückte er diesem seinem Fachgebiet – von ihm auch „Strollologie“ genannt – beim Beobachten der Bundesgartenschau in der Kasseler Karlsaue 1981. Sein Fazit damals: „Durch Pflege zerstört“. Für die bunten Blumen war die Vegetation bis in 40 cm Tiefe durch Gift abgetötet worden, eine Lindenallee zugunsten historisch „richtiger“ Eichen abgeholzt und Drainagegräben mit Bulldozern zugedrückt worden, wodurch die Karlsaue schlicht absoff.

„Warum ist Landschaft schön?“, fragte er immer wieder und konnte überzeugend ausführen: „Die Landschaft entsteht in unseren Köpfen.“ Wie im Film entstehe Landschaftswahrnehmung als kinematografischer Effekt: als Zusammensetzung von Myriaden von Eindrücken, die aber durch das, was wir zu sehen gelernt haben, gefiltert werden. Burckhardt warnte: Man möge nicht in die Landschaftsfalle gehen und Natur mit Landschaft gleichsetzen. „Schöne“ Landschaft war für ihn nichts weiter als das Wiedererkennen kulturell gewachsener Normen. Darum sah Burckhardt auch nicht ein, warum ein durch den Wald rauschendes Bächlein vor Bergkulisse schöner sein sollte als eine Brache in der Stadt oder ein Gasometer in St. Louis. Auf Burckhardts einzigem Spazierstocknagel stand schlicht: „Hier ist es schön.“ FALKO HENNIG

Lucius Burckhardt: „Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft“. Martin Schmitz Verlag, Berlin 2006, 360 Seiten, 18,50 €