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Archiv-Artikel

Der Kiosk

Vom Leben einer Kioskfrau aus Fleisch und Blut

von GABRIELE GOETTLE

Ingrid Reinke, Kioskbetreiberin am Ludwig-Beck-Platz in Berlin-Lichterfelde West. 1940 Einschulung in die Volksschule Bernstein/ Kreis Soldin, Westpommern. 1945 Vertreibung u. Flucht nach Berlin, 1946-48 Beendigung der Volksschule daselbst. Ab 1949/50 Arbeit im Kiosk d. Großvaters. Ingrid Reinke wurde 1934 auf dem elterlichen Gutshof Elisenhöhe bei Bernstein geboren, ihr Vater war gelernter Landwirt u. Jäger, ihre Mutter war f. d. Hauswirtschaft zuständig, I. R. ist verwitwet und hat zwei Töchter.

Der Kiosk ist ein magischer Ort. Ausgewandert aus den feudalen Parkanlagen des 18. Jahrhundert, wo er den Part des orientalischen Lustpavillons zu spielen hatte, gelangte er Ende des 19. Jahrhundert als Zeitungskiosk auf die Pariser Boulevards (daher „Boulevard-Zeitung“) und dann auch zu uns, wobei der türkische Name KÖȘK zu Kiosk eingedeutscht und das Sortiment erweitert wurde. Lustpavillon ist er immer noch. In ihm warten immerwährend Süßigkeiten auf die Kinder, Zeitungen und Zigaretten auf die Erwachsenen. Sein Innenleben aber bleibt verborgen. Verkauft wird durch die Luke hindurch. Von der Kioskfrau kommen nur Gesicht und Hände zum Vorschein, ein Lächeln vielleicht, ein Gruß, eine treffende Bemerkung. Dann geht der Kunde zufrieden seiner Wege. Das ist für uns der Kiosk. Für Frau Reinke hingegen, die ihr ganzes Leben lang innen saß, ist der Kiosk ihre Rettungskapsel, ihre Schutz- und Trutzburg, mit der sie sich die Welt draußen auf Distanz hält, und er ist das Metronom für ihren Lebensrhythmus.

Der Kiosk steht auf dem Ludwig-Beck-Platz in Lichterfelde West, er ist hellgrün, aus Metall, und pavillonartig mehreckig zusammengebaut. In den Fenstern hängen Zeitschriften und Werbung. Innen gibt es Heizung und WC, Waschbecken, Spülmaschine, Kühlschränke für Eis und Getränke und ein ausgefeiltes Stell- und Regalsystem für die große Menge von Druckerzeugnissen, Zigaretten, Süßigkeiten, Bier- und Limonadenflaschen. Frau Reinke ließ uns in ihr Allerheiligstes ein. Es fanden sich sogar zwei Sitzgelegenheiten für uns in der Enge. Sie hat Platz genommen auf ihrem mit weißem Lammfell bedeckten Stuhl, wir haben Kaffee bekommen, sollen Kekse nehmen, und dann ist sie bereit zu erzählen:

„Den gab’s hier gar nicht, den Kiosk. Den habe ich erst aufgebaut, nach langem Kampf mit dem Amt. Er kam 350.000 Mark damals, und ich hatte nicht einen Pfennig, den musste ich abzahlen, abzahlen, abzahlen! Morgens um vier aufgemacht, offen bis in die Nacht. Ich muss Miete zahlen nach Umsatz – der wird immer weniger – und Grundsteuer auch noch. Hab ich nie verstanden. Das ist doch nicht mein Grund und Boden! 20 Jahre bin ich jetzt hier in diesem, am 9. Dezember. Seit mehr als 56 Jahren stehe ich in einem Kiosk und verkaufe, aber jetzt geht’s nicht mehr. Sie sehn ja, mein Bein ist ein großes Handicap, ich habe ja ein offenes Bein. Aber das ist eine andere Geschichte. Irgendwann ist Schluss! Ja …“

Ein Kunde wünscht zwei Päckchen Zigaretten und sagt im Weggehen: „Nee, also da kommen einfach keene Weihnachtsjefühle uff bei mir, wenn ick keene Winterreifen druff habe. Tschüs, Frau Reinke.“ Sie fährt fort: „Ich war immer gern hier am Marktplatz. Der hat mich all die Jahre erinnert an unseren damaligen Hof. Bei uns standen oft die Kühe und Pferde im Hof, ich habe Schularbeiten gemacht, und sie haben den wilden Wein abgefressen an der Veranda, wenn keiner aufgepasst hat. 1945 wurden wir vertrieben von den Polen.“ Sie ignoriert das Klingeln des Telefons und sagt nebenbei: „Das ist nur ER. Na also im Herbst wurden immer Gänse gerupft, unsere Knechte kamen heraus mit den ganzen Federn auf dem Kopf, wir Kinder haben gelacht. Der Hund hieß Hektor, wie ich vier war, kam meine Schwester Helga, da war ich eifersüchtig. Mein Vater war stellvertretender Bürgermeister, wenn er wegfuhr, sagte er immer zu mir: ‚Rosa Schulze, kommst du mit?!‘ Wie er gestorben ist 1940, einen Tag vor Heiligabend, da bin ich fast mitgestorben. Er war über die ganzen Weihnachtstage in der Stube aufgebahrt. Meine Mutter sagte: ‚Gib ihm mal einen Kuss, er kommt nicht wieder. Ich war sechs. Er war 26 Jahre älter als meine Mutter. Er hat sich immer so aufgeregt über die Zustände. Wir hatten eine große Landwirtschaft, da waren im Krieg Leute, Franzosen, Polen, Russen, die für uns gearbeitet haben.“ „Zwangsarbeiter?“, frage ich. „Ja. Die waren im Gefangenenlager beim großen Markt eingesperrt und kriegten da kaum zu essen, hatten nichts auf den Knochen und sollten arbeiten. Mein Vater hat gesagt: ‚Halt! So geht das nicht!‘, und Kartoffeln, Rüben, Äpfel und auch mal Fleisch runtergebracht. Mein Vater war kein Nazi. Man hat es ihm übel genommen, er wurde eingesperrt. Es hieß, er hätte kollaboriert mit dem Feind, mit den Leuten …

Und dann war er also tot. Es war furchtbar. 43 hat meine Mutter wieder geheiratet, der ging dann in den Krieg. Ich habe zu meiner Mutter gesagt: Ich helfe dir immer, ich heirate nie! Bei der Vertreibung war ich elf, hab da einen Handwagen geklaut, Kartoffeln reingemacht, ein Kochgeschirr genommen und gesagt: So, damit werden wir schon weiterkommen. Ich hatte so eine Beschützertour drauf. Wir wurden nach Berlin evakuiert, fanden eine Unterkunft in der Machnower Straße, Opa, meine Mutter, meine Schwester Helga und ich. Oma ist 45 verhungert, wir hatten ja nichts. Uns wollte ja keiner haben …“ Ein Junge will ein Center-Schock und zwei Schlangen … R: „Dich kenn ich doch, du kommst gar nicht mehr so oft vorbei wie früher?!“ J: „Fünfte Klasse hat man viel um die Ohren. Tschüss.“

Frau Reinke schüttelt den Kopf, lässt sich auf ihr Fell sinken und streicht über ihr rechtes Bein. Sie trägt Hosen, das Hosenbein ist vollkommen ausgefüllt. „Heute habe ich die Ärztin kommen lassen für eine Spritze, damit ich schmerzfrei bin, scheint aber nicht zu klappen. Wollen Sie noch einen Kaffee? Nehmen Sie nur! Wo war ich stehen geblieben …? Ich will ja der Reihe nach … Also 1949, da hatte der Großvater schon einen Kiosk an der Wiesenbaude. Ich war fertig mit der Schule und der Opa sagt zu seiner Tochter: ‚Kannst mir ja mal die Ingrid schicken.‘ Für die Handelsschule war ja kein Geld da. Ich hab es dann versucht und bin am 11. Januar 1950, zwei Monate vor meinem 16. Geburtstag, fest mit eingestiegen. Menschenscheu war ich, aber es ging mit der Zeit.“

Sie ignoriert das Telefon und bedient einen Kunden, ruft: „Tschüss, Günther!“, und fährt fort: „Der Kiosk war an der großen Hauptpost, Hindenburgdamm Ecke Königsberger Straße. Damals war dort noch was los! Opa hat um sechs aufgemacht, und ich kam dann um zwölf bis abends um zehn zur Ablösung. Da hatten wir viele Süßigkeiten und Erfrischungen, haben viel Eis verkauft. Opa hat dafür so ’ne Waffel selbst gemacht, das Eis kam zehn Pfennig. Und Bockwurst gab’s. Da war direkt die Haltestelle. Man hat die Wurst schon auf den Pappteller gemacht, da rief so ein Kunde: ‚Nein, ich kann nicht, mein Bus kommt!‘ Also da musste man aufpassen. Am besten gingen die Plombenzieher „Sahnekaramellen“ und Vivil, die kleinen, zehn Pfennig, Nappo – gibt’s auch heute noch – kam drei Pfennig, Ahoi-Brause kam fünf Pfennig, ja, da gab’s auch noch Pfefferminz in Platten, weiß und rosa, das war sehr gut, auch die Kokosflocken waren rosa und weiß, hab ich viel verkauft.“

Eine BZ wird verlangt. Frau Reinke erhebt sich jedes Mal derart schnell und leicht, es ist erstaunlich. „Ja, und die Bonbons waren in bauchigen Gläsern, so gekippt. Mit Schäufelchen habe ich die in spitze Tüten getan und gewogen, 1/4 Pfund für 45 Pfennig. Schokolade ging immer besonders gut am Monatsende. Da gab’s die Rentenauszahlung auf der Post, die Rentner haben angestanden. Danach kamen sie an den Kiosk, kauften Mokka-Sahne oder die mit den Kühen da, ‚Im Dorf‘ stand drunter, die kam 1,20 Mark. Da waren richtig Kühe auf der Weide abgebildet …“ K: „Guten Tag, einmal West und noch die BZ bitte mit zu. Dankeschön, bis morgen.“ „Ich hab mich so durchgebissen. Die Rentner haben mich immer geneckt. Meine Mutter hatte mir alles in Rot gestrickt, rotes Käppi, roten Pullover und Schal.

Die Wiesenbaude ging von 49 bis 52. Dann hat Opa sich von einem Kriegskameraden beschwatzen lassen, hat verkauft und ein kleines Ladengeschäft in Neukölln gekauft. Zwei Zimmer mit Küche waren dabei, dort haben wir dann zusammen gewohnt. 59 Mark Miete kam alles, aber es gab keinen Umsatz. 57 haben wir den verkaufen können, den Laden, und sind von da aus für eine Saison nach Wannsee raus, Heckeshorn, das hatte Opa in der Zeitung gelesen. Da war Werner, der hatte auch noch einen Bootsverleih. Wegen Tuberkulose durfte er den Kiosk nicht weitermachen, und Opa hat ihn also gepachtet für ein Jahr, für 1.500 Mark.“

Ein Kind steht schon eine Weile und schabt mit dem Geldstück auf der Blechtheke. R: „Nun?“ K. „Ähhm … eine Schlange, und von den süßen … ähm …“ R: „Auwarte! Bist du ein Politiker, sagst immer ‚ähmm‘? Weißte nicht, was du willst?“ K: „Doch. Eine Schlange, und von den süßen Bonbons zehn Stück.“ „Na siehste!“ Sie angelt mit einem Zängchen die lange rotgrüne Fruchtgummischlange aus einem Plastikbehälter und lässt sie in eine Papiertüte gleiten. R: „90 Cent. Wiedersehen.“ Sie seufzt. „In Wannsee hatten wir auch Tische. Den Kartoffelsalat und die Buletten hat Opa selbst gemacht und natürlich den Kuchen. Opa war ja Bäckermeister von Beruf. Ich fand es dort draußen schön. ‘Ne kleine Katze war mir zugelaufen, die Angler haben immer Fisch mitgebracht. Von Pfingsten bis zu Opas Geburtstag im November haben wir draußen geschlafen. Hatten uns jeder ein Zelt gekauft, so schliefen wir, denn wir hatten ja gar keine Wohnung mehr, nachdem der Laden verkauft war. Dann wurde es aber zu kalt.

Ende 57 fand Opa eine Wohnung in der Fuggerstraße 22, in Schöneberg. Der Hausherr fragte nach Referenzen. Der Opa sagte: ‚Was soll ich mit Referenzen? Nehmen sie die Miete für ein Jahr, dann ist es gut!‘ Das war ein Ladengeschäft.“ Das Telefon schrillt, „das war eine ehemalige Plätterei, zwei Zimmer und der Laden, ein schöner Ofen drin. Wir haben die Scheibe von innen weiß gemacht und uns eingerichtet. 130 Mark Miete kam die Wohnung. Opa hatte eine kleine Rente, also habe ich Arbeit angenommen in einem U-Bahn-Kiosk, es war Station Hallesches Tor, mächtig zugig war’s. Morgens von sechs bis 14 Uhr, für 40 Mark die Woche. Nach einem viertel Jahr habe ich gesagt, das ist ja furchtbar, und den Opa gedrängelt, wieder einen Kiosk zu kaufen.“

R: „Guten Tag, was soll’s denn sein?“ K: „Einmal Puffreis und zwei Schlangen. Danke.“ Frau Reinke legt die Münzen in die Kasse.“ Dann hat er den Kiosk in der Wilmersdorfer gekauft, er wurde aber mit den Umsatzzahlen betrogen. Wir standen da rum für einen Hungerlohn, das Geschäft hat sich woanders konzentriert, in der Markthalle, da war auch ein Zeitungsstand.“ Das Telefon klingelt. „Opa hat dann jemand gefunden, der hat uns den wieder abgekauft. Und dann hatten wir mal Glück, einer gab uns die Adresse, den seh ich wie heute – wunderschöne blaue Augen hatte der, als wenn man in einen See geguckt hätte. Wir sind hingegangen zu dem Kiosk, da stand eine Frau Krauskopf drin, die konnte kaum Luft holen, so viel hatte die zu tun.

Das war hier vorn, Augusta- Ecke Holbeinstraße. Direkt neben der Litfaßsäule hat der Kiosk gestanden. Opa hat gleich gekauft, und wir sind am 1. Januar 1958 rein. Der war klein. So ein Kasten, aber der Umsatz war doll! Allein an Romanen habe ich 200 am Tag verkauft, so viele, wie heute nicht mal im ganzen Jahr. Das war noch vor der Mauer. Da kamen sie aus dem Osten, haben hier 30, 40 Romane gekauft, und drüben weiter verkauft. Aber im Kiosk war kein elektrisch. Da hat der Opa sich umgehorcht und ist zu Stücklen gegangen.“ (Heinz Stücklen, SPD, Bezirksbürgermeister. Anm. GG) „Der hatte da direkt sein Haus und hat uns erlaubt, den Kiosk in seinen Vorgarten zu stellen. 1962 sind wir da rein, und der Tischler in der Dürerstraße hat den Kiosk ein bisschen verlängert. Da hatten wir dann Licht, es war ein kleiner Ofen drin, wo wir das Verpackungsmaterial eingeheizt haben, einen Hocker hatten wir, alles. Wir haben Zeitungen, Zigaretten und Süßwaren verkauft, keine Getränke. Damals habe ich 500 BZ verkauft am Tag, heute nicht mal 30, 80 Bild, dann die Nachtdepesche und der Abend waren nochmal 80. Und es gab noch all die anderen. Telegraph, Der Tag, erster Kurier, zweiter Kurier – den zweiten gab’s am Nachmittag. Damals wurde ja auch noch zweimal am Tag Post zugestellt für den Bürger, alles vorbei. Also Zeitungen gingen weg wie nichts.

Nur einmal, 1968 war das, um Ostern, da war der Aufstand, da wurden die ganzen Autos angesteckt von Springer, ein heilloses Durcheinander war das, da gab es keine Bild-Zeitung und keine Morgenpost. Hier war ein Hotel, kam 70 Mark die Nacht, da waren viele Journalisten, die kamen an den Kiosk und haben gesagt: Das wurde inszeniert! Von Springer aus, aber das kann man ja nicht sagen, die bekamen Geld dafür, dass sie randaliert haben. Ob’s stimmt, das weiß ich nicht.“ (Die Rede ist von den Anti-Springer-Aktionen nach dem Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April 1968, Studenten u. Schüler verhinderten durch Blockaden u. Sitzstreiks i. d. gesamten BRD die Auslieferung von Bild u. BamS.)

„Ja und 1969 habe ich dann meinen Mann kennengelernt. Geheiratet habe ich 1971. Mit 37, so spät, ja. Keine Zeit gehabt und keine Lust. Opa war wunderbar, er hat gekocht zu Hause. Gut gekocht. Und er war sehr für Neuerungen. Auch mit diesem Schnellkochtopf in den 60ern, den hat er gleich gekauft für 160 Mark. Pellkartoffeln in fünf Minuten! Ich hatte doch den Himmel auf Erden!“ Ein älterer Mann wünscht zwei mal Zigaretten und ein Bier. R: „Ist teurer geworden, wissen Sie, ja?“ M: „Hauptsache, der Staat kommt uff die Beene! Is doch so. Dankeschön.“ Frau Reinke sagt: „So isses. Also zurück. Ich habe 22 Jahre mit Opa zusammen gelebt, war wunderschön. 1970 ist er gestorben. Ich bin mit ihm zur Haltestelle, hab ihn noch so gestützt, da kam der Bus, hier bei Hillmann an der Ecke. Ich habe ihn hochgeschoben und da ist er zurückgesunken und war tot. Die Feuerwehr hat ihn ins Klinikum Steglitz gebracht, und als ich dann hinkam, da lag er in so ’nem blauen Sack. Ich habe die verflucht! Der Mann hat so viel für Steglitz getan, hat seine Steuern bezahlt, mit dem Fahrrad ist er bis in die Schloßstraße gefahren zum Finanzamt. Und das ist das Ende? In eine blaue Tüte gesteckt, kurz vor dem 81. Geburtstag, der Vater meiner Mutter, Leonhard von Wicki!

1971 habe ich dann geheiratet, er war 26 Jahre älter und Gärtner im Botanischen Garten. 71 musste ich auch umziehen mit dem Kiosk, ein Haus weiter nur. Da wohnte der Lüder.“ (Wolfgang Lüder, Rechtsanwalt, 75–81 FDP-Chef, Wirtschaftssenator u. Bürgermeister i. Berlin. GG) „Der hat mich immer beschützt. Mein Mann hat den ganzen Kiosk selber gebaut, hat mit so einem Material aus Kühlschränken alles isoliert und das Holz nochmal verschalt, drinnen und draußen. Im Fußboden war Holzwolle drunter, nicht so ein kalter Zement wie hier. Der Kiosk war zweimal so groß wie dieser, hinten in den Gang konnte ich 30 Kästen Bier reinstellen. Mein Mann hatte alles auf einer Zigarettenschachtel aufgezeichnet und es dann gebaut. So war der, der Josef Reinke. Er starb 1975. Wir sind noch im Kiosk gewesen vorher, dann nach Hause gefahren. Er hat noch seine Katzen da, seine Hühner und Enten und alles gefüttert, und ist dann hoch. Wie ich raufkomme, liegt er schon da. Tot.

Die Franziska, die Tochter, war vier Jahre, die andere hatte ich noch im Bauch. Und dann einfach so zur Tagesordnung übergehen, das war nicht schön. Nee, das war ein schlimmes Jahr für mich … Und wie ich wieder auf den Beinen war und meine Mutter sich auch um die Kleine gekümmert hat, da gab’s für mich nur noch Arbeit, Arbeit, Arbeit! Fünf Jahre habe ich im Kiosk auf der Erde geschlafen mit der Luftmatratze. Ich musste ja viel bezahlen, die Wohnung von Mutter, für jedes Kind 400 Mark, Lebensmittel und alles. Da habe ich manchmal nachts um zwei aufgemacht, so ’ne Art 24-Stunden-Bereitschaftsdienst.“ Das Telefon läutet nicht enden wollend. Sie steht auf und nimmt resigniert ab. R: „Na, was gibt’s Heinz? Geht jetzt nicht. Ich habe dir ja gesagt, dass ich hier heute ein Gespräch habe den Tag über, also ’tschuldige bitte, bis später, ich habe Kunden!“ Ein Uhrenkatalog wird verlangt. Frau Reinke reicht ihn hinaus, legt den Schein in die Kasse und setzt sich. „Es ist so, 1975 ist mein Mann gestorben, und bis 1999 war ich alleine. Dann stand ER mit einmal da, wie so’n armer Sünder. Und Weihnachten frag ich, na, was machen sie denn nun, Herr L.? Sagt er, ich? Also, ich bin alleine. Sag ich, ich auch. Wenn sie wollen, ich mach ein bisschen Kartoffelsalat und Buletten. Erst hat er mir viel geholfen. Bis 2003 ging das wunderbar. Jetzt sitzt er nur noch bei mir zu Hause und macht Theater jede Nacht bis zwei. Und andauernd ruft er hier an. Er ist schlicht und ergreifend ein Säufer! Ich habe ihn zweimal zum Entzug gebracht. Danach war’s besser. Vorübergehend. Jetzt ist er 57 und denkt: ‚Muttern wird’s schon richten.‘ “ Sie lacht bitter und singt sehr schön: „… der Mann durchs Leben rollt mit der Zigarre Handelsgold.“

Ein Kunde möchte eine BZ und ein Päckchen Zigaretten. R: „Na, wie geht’s, länger nicht gesehen?“ K: „Bescheiden schön. Man wurschtelt sich so durch. Wiedersehen.“ Frau Reinke sagt seufzend zu uns: „Die Zeiten sind schlecht und werden nicht besser. Ich war immer ein bisschen mitfühlend mit den Kunden, auch heute noch, wenn sie ankommen. Kein Geld. Aber ich hab ja selber nichts. Bei dem Umsatz!“ Telefon. „Jetzt wieder zurück. Fünf Jahre Luftmatratze, ich musste ja ganz alleine weitermachen. Verdienen sie erst mal für zu Hause einen Tausender jeden Monat! Das war nicht leicht. Ich habe einen Schlüssel bekommen vom Klohäuschen, das ist heute zu – ich hab ja zum Glück mein eigenes hier. Morgens konnte ich da rein, bevor aufgesperrt wurde für den Tag. Es war sogar beheizt. Da habe ich mich gewaschen und alles. Einmal in der Woche zum Frisör, und meine Mutter hat mir immer frische Sachen gebracht. So habe ich gelebt, die ganzen Jahre.

Und plötzlich, 1980, wurde das Haus verkauft. Ich war ja so lange geschützt durch den Lüder, aber wie der dann rausgegangen ist, war’s aus. 1980 am 5. Mai bin ich umgefallen. Ich wusste das schon vorher. Als ich das Kuvert aufgemacht habe und sehe: Kündigung, da ging’s mir wie so ein Feuer durch und durch. Die ganze rechte Seite wie gelähmt. Dann habe ich zu Hause gelegen für 14 Tage, mit 40 Fieber. Die Lieferanten haben die Zeitungen einfach in den Garten geschmissen über den Zaun. Die wurden teils geklaut, teils hat es geregnet. Ich war ja nicht ansprechbar, und meine Mutter hatte keine Ahnung, wie und wo sie die abbestellen konnte. Da durfte ich dann tausende Mark zahlen für die Lieferungen.“ Telefon. „Am 30. Mai war ich dann wieder einigermaßen auf den Beinen und bin in den Kiosk, habe beim Lieferanten alles gekündigt, dann das, was da noch war, eingepackt. Aber mir ging’s gar nicht gut. Telefon. „Da war ein netter Herr von Siemens, der sagte, ‚ja, meiner Frau ging’s genauso, die hatte auch ‚die Rose‘.“

Ein Vater mit seinem Sohn steht vor der Luke. R: „Guten Tag, was soll’s sein?“ K: „Eine Schlange bitte, eine rote.“ V: „Ist die lang! Und für mich noch die Computer-Welt. Danke, auf Wiedersehen.“ Frau Reinke streicht über ihr Bein. „Ich hatte eine Wundrose, von der Haarwurzel bis zum Zeh, durch Schock ausgelöst. Ich sah aus wie 90, ging am Stock. Und die Gesundbeterin, die er mir empfohlen hatte, die sagte: ‚Nein, so was habe ich noch nicht gesehen. Ich mache das 40 Jahre schon. Mein Sohn darf das gar nicht sehen, das kostet mich so viel Kraft!‘ Insgesamt dreimal war ich da, dann wurde es besser, und ich konnte wieder ein bisschen laufen.“ K: „Tag. Eine Marlboro light und ein Bier bitte.“ Frau Reinke reicht das Gewünschte hinaus und auch ein paar kleine Hundekuchen für den vierbeinigen Begleiter. Sie bewegt sich trotz ihres Alters und ihres kranken Beines überraschend geschmeidig in ihrem winzigen Reich hin und her, bückt sich, greift weit hinauf, hebt Bierkästen, und rückt Zeitungsbündel zur Seite, um die Kundenwünsche zu erfüllen.

„An den Tatsachen war aber nun nichts mehr zu ändern. Der Kiosk wurde abgerissen, das Fundament kriegten sie kaum klein. Das hatte mein Mann gemacht, die Kriegsgeneration hat ja alles gebaut für die Ewigkeit. Und dann war ich acht Jahre zu Hause, ohne Einkommen. Wenigstens hatten wir eine Wohnung. Opa hatte ja damals das Haus gekauft in Lankwitz, altes Mietshaus mit drei Wohnungen, wir im 3. Stock. Da sitzen wir heute noch drin. Und in diesen …“, Telefon, „sechs Jahren, da habe ich darum gekämpft, dass ich hier diesen Kiosk aufstellen darf, in dem wir jetzt sitzen. Jeden Tag aufs Amt in den Kreisel gefahren. Immer haben sie’s mir abgelehnt. Drei Jahre habe ich allein gekämpft, dann bin ich zum Lüder gegangen, der ist ja Rechtsanwalt. Wie ich noch in meinem Kiosk war im Vorgarten, da war er ja Bürgermeister damals. Ich habe immer seine Schlüssel gehabt, das war ein Vertrauensverhältnis. Ich habe seine Post für ihn verwahrt. Es war auch mal so ein verdächtiges Päckchen mit bei. Da war grade die Lorenz-Affäre damals, und eine Weile wurde der Lüder von der Polizei bewacht Tag und Nacht, und der Kiosk und ich wurden gleich mit bewacht.“ (Febr. 1975 Entführung d. damal. Berl. CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz durch die „Bewegung 2. Juni“, zwecks Freipressung mehrerer inhaftierter RAF-Mitglieder. Nach ihrer Ausreise i. d. Südjemen wurde Lorenz a. 2. 3. 75 freigelassen.) „Na, passiert ist dann ja nichts, zum Glück. Und der Lüder hat mir ab 1983 sehr geholfen. Der hat drei Jahre für mich gekämpft, und für die drei Jahre hat er nur 1.500 Mark insgesamt verlangt.“ Mehrere Kunden werden bedient. R: „Na?“ K: „Schon wieder bin ich der Letzte – egal wo, ich bin immer der Letzte! Ich möchte endlich mal der Vorletzte sein …“

„Ich wollte diesen Kiosk unbedingt, hier auf diesem Platz, und es hat ja dann geklappt. Nee, auch die Summe hat mich nicht abgeschreckt. Ich habe das Haus verpfändet. Meine Mutter hat geschimpft und geklagt: Du machst uns heimatlos, wir haben wieder keine Heimat! Meine Mutter starb 1986 an einem bösartigen Tumor im Kopf, mit 72 Jahren. Sie hat meine beiden Töchter groß gezogen, und ich war der ‚Ernährer‘ sozusagen. Sie hat die ganzen Kämpfe noch mitgekriegt, aber den Kiosk, den hat sie nicht mehr gesehen.“ Telefon.

Wir erwähnen, dass im April 1986 auch die Reaktor-Katastrophe in Tschernobyl war. „Ach, das war auch 86? Aufgemacht habe ich ja erst am 9. Dezember. Na, und jetzt sitze ich hier seit 20 Jahren und gucke mir das an, wie alles schlechter wird. Es war schon vor der Wende schlechter. Nach der Wende ist es für kurze Zeit ein bisschen aufwärts gegangen. Und ganz schlecht ist es seit der Euro-Einführung. Ab da ist alles furchtbar geworden! Die Leute glauben an nichts mehr. Früher haben wir noch viel verkauft so über Astrologie und Horoskope, das ist total zurückgegangen. Früher haben wir sehr viele Spiegel verkauft, jetzt nur noch 25 bis 30. Focus habe ich höchstens fünf. Von den ganzen Tageszeitungen ist zwar BZ am meisten, aber auch viel weniger als früher. Tagesspiegel sind’s in der Woche nur noch 20, am Sonntag 30, taz habe ich zwei bis drei, für Stammkunden. Es ist viel verloren gegangen, teils durch die Abos, und weil man Zeitungen heute auch an der Tankstelle und im Supermarkt kaufen kann, teils auch, weil die Leute weniger Geld haben – oder sie halten es mehr zusammen.“

Ein junger Mann möchte Zigaretten und verabschiedet sich freundlich. „Den kenne ich noch von früher, wie er hier drüben in die Schule ging, als Kind. Morgens kamen sie schon an, die Kinder: ’ne Schlange, Brausepulver, Center-Schock. Da hab ich ja immer von 6 bis 22 Uhr offen gehabt. Seit zwei Jahren ist das Ganztagsschule, die Kinder kriegen da alles zu essen. Sie kriegen auch Eis. Und der Markt ist auch so gut wie tot, drei Stände sind grade mal noch an den Markttagen. Sie glauben gar nicht, was das hier früher für ein Leben war! Und die Polizei oben am Augustaplatz … zwar ist die noch dort, aber die verlängern keine Ausweise mehr. Da kamen immer massenhaft Leute an.“

Wir fragen, ob sie sich noch erinnert an die Abschiebehäftlinge, die in der Silvesternacht 1983 in den Polizeizellen am Augustaplatz verbrannt sind? „Ja, erinnere mich, dass sowas passiert ist, aber nicht mehr an die Einzelheiten. Ich lebe ja dauernd mit den Schlagzeilen, viel davon vergisst man wieder.“ Sie hat sich erhoben und füllt einen Stapel Illustrierte ins Regal, akkurat überlappend, so dass der Titel noch zu sehen ist. „Bei mir muss alles an seinem Platz sein. Da kann ich blind hingreifen.“ R: „Na, was möchtest du denn haben? „ K: „Eine Schlange … und fünf Center-Schock bitte.“ R: „Und welche Geschmacksrichtung? Gut, gemischt. Bitteschön“. Sie setzt sich wieder und schenkt Elisabeth und mir je drei dieser trendigen Kaugummis mit der sauren Füllung. „Das lieben die Kinder. Ich selber mag die Schlangen, da esse ich jeden Tage eine.“ Telefon …

Ein älterer Mann will eine Zeitung und Zigaretten, er erzählt, dass er grade ein bisschen Weihnachtsschmuck am Gartentor angebracht hat und dass das alles ja doch zu nichts nutze ist. Bis auf die Kinder vielleicht wirken alle mehr oder weniger verstimmt. „Es gibt so viele einsame Menschen. Manchmal ist das hier ein richtiges Treffen, da erzählen sie mir dann alles, Sorgen, Krankheiten, die kommen da ihr Herz ausschütten. Ich find es für die Zukunft auch nicht schön. Und jetzt gehn die Schmerzen wieder los … auweh.“

Wir fragen, was denn mit ihrem Bein ist. Sie setzt sich, bläst die Luft aus und sagt: „Na ja, das hab ich mir 1971 verbrüht, im Kiosk drüben, zehn Tage vor der Geburt meiner Tochter. Ich wollte mir einen Kaffee machen mit dem Tauchsieder und bin mit meiner Unförmigkeit angekommen an das kochende Wasser. Alles über mein Bein. Ich hatte Nylonstrümpfe an. Hab geheult und weiter gearbeitet. Wie abends mein Mann kam, sag ich, du, kannste mich mal schnell hinfahren zum Klinikum, ich hab mir das Bein verbrüht. Er hat nur gesagt: Ach, Weiber! Sag ich: Ist gut, ist erledigt! Na ja, und am nächsten Tag kam dann eine Krankenschwester, eine nette, die sagte: ‚Um Gottes Willen, warum haben Sie denn nichts unternommen?! Sie haben da eine Verbrennung dritten Grades.‘ Sie hat den Strumpf und die dicken Blasen und alles vorsichtig runtergerissen, das war alles rohes Fleisch. Mit der Zeit ist es verheilt…“ R: „Was darf’s sein?“ K: „Einmal Pall Mall, die rote.“ Sie erzählt weiter: „Wie das verheilt ist, da war nur so ’ne dünne Pergamenthaut drüber. Und 1978 bin ich dann im Kiosk an eine scharfe Kante gestoßen, von da an ist das Bein offen. Mein Arzt hat gesagt: ‚Frau Reinke, wenn wir das wieder zukriegen, geh ich mit ihnen zum Tanzen.‘

Es kann aber nicht zugehen, weil keine Ruhe da ist. So ein Bein braucht Ruhe. Und ich hatte doch die vielen Schulden, ich konnte ja nicht einfach alle Viere von mir strecken. Nee, Tabletten nehme ich nicht. Ich lebe mit den Schmerzen, schon 28 Jahre. Wenn’s zu doll wird, mache ich China-Salbe drauf. Ich spreche nur auf Natur an. Heute ausnahmsweise ist die Ärztin hergekommen und hat mir eine Spritze gegeben, damit wir in Ruhe“, Telefon, „reden können. Das ist ja richtig roh, blutig, eitrig und alles, da ist noch ein Knochen, was rauskommt schon, hier unten ist alles weg, weggefault. Morgens um fünf stehe ich auf und brauche für mein Bein fast zwei Stunden. Erst mal sauber machen. H2O2, dreiprozentig, drübergießen zum Reinigen und Desinfizieren. Da gieße ich täglich eine Literflasche drauf, die kostet auch schon fünf Euro.“ Zwei Mädchen möchten Snickers, Schlangen und Zwiebelringe. Die Gaslaterne draußen ist angegangen. Wir haben die Dämmerung gar nicht bemerkt.

„Ich habe vor, alles zu verkaufen. Auch das Haus. Ich brauche für mich nur ein Zimmer mit Kochniesche. Ich möchte mal an mich denken und mit dem Bein noch mal was versuchen im Krankenhaus. Und wenn ich das schaffe, dass das besser wird, dass es zugeht, dass ich Treppen steigen kann und alles, dann gehe ich zur Musikschule und lerne noch singen. Ist mir wurscht! Ich möchte Opern singen!“ Sie singt mit voller schöner Stimme: „Ich trete ins Zimmer von Sehnsucht erfüllt …“