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Archiv-Artikel

Ein Jahr voller Schandtaten

Gerade, wenn es nicht in Mode ist, sollten wir weiter von einer besseren Welt träumen DAS SCHLAGLOCH von ILIJA TROJANOW

Ein substanzieller Teil des irakischen Reichtums hat seine „exit strategy“ schon gefunden

Es war alles andere als ein gutes Jahr, das vergehende, auch wenn das Handelsblatt zu Weihnachten fröhlich wohlgemut titelte: „Ein gutes Jahr“. Ein genauerer Blick auf die bunte Collage auf der Titelseite entlarvt, wie einseitig die Belege für die Segnungen von 2006 ausfallen: Zehn von dreizehn Bildern betreffen die Fußballweltmeisterschaft, die uns zwar mit enttäuschend wenigen nennenswerten Spielen beschenkte, dafür aber haptisch überzeugte – sie fühlte sich gut an.

Es herrscht Übereinstimmung im Land, dass die Stimmung in Deutschland gut war. Aber da mit Stimmung allein kein dauerhafteres Hoch zu erzeugen ist, stellt sich die Frage, was vor Anpfiff und nach Abpfiff sonst noch so geschah.

1. Im Dezember publizierten die Vereinten Nationen einen Bericht, laut dem 2 Prozent der Menschen vermögender sind als die Hälfte der Menschheit!

Das Missverhältnis ist zwar keineswegs neu, aber die Tendenz geht rasant in Richtung größerer Ungleichheit. Im globalen Maßstab wie auch in Deutschland. Man muss kein Ökonom sein, um zu erkennen, dass etwas Gravierendes nicht stimmt, wenn „Gürtel enger schnallen“ bewirkt, dass punktuell das Fett überquillt.

2. Am 30. Oktober veröffentlichte der ehemalige Weltbank-Chefökonom Nicholas Stern einen Bericht über die globale Erwärmung, der nicht nur, wie alle Untersuchungen und Projektionen zu diesem Thema davor, geradezu apokalyptisch klingt, sondern auch einer breiteren Öffentlichkeit auseinandersetzt, dass Umweltschutz langfristig erheblich wirtschaftlicher ist als Umweltverschmutzung.

Wenn wir national und international handeln, können wir die Konzentration der Treibhausgaskonzentration auf unter 550 ppm (parts per million) halten, womit die schlimmsten Folgen vermieden wären. Zum ersten Mal hat ein Ökonom aus dem Establishment die Kosten für unser Überleben beziffert: 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Da die Militärausgaben diese Summe bei weitem übersteigen, gibt die Menschheit weit mehr für Zerstörung als für Erhaltung aus. Und das nennt sich Realpolitik!

3. 2006 hat gezeigt, wie fragil und beschädigbar unsere westliche Demokratie ist. Früher hätten wir das, was wir gegenwärtig erfahren, „Gegenrevolution“ genannt. Auf allen Ebenen werden Errungenschaften eingeschränkt oder abgeschafft, auf die wir stolz sein konnten.

In Großbritannien, dem Mutterland der modernen Demokratie, sollte das juristische Rückgrat der Menschenrechte, das Habeas-Corpus-Recht, abgeschafft werden, und es blieb ironischerweise dem einst konservativen Oberhaus überlassen, den schändlichen Gesetzesentwurf abzuschwächen. In den Vereinigten Staaten unterschrieb Präsident Bush am 17. Oktober ein Gesetz, das Folter und Entführung legalisiert, und widerrief somit einen zentralen Teil der „Bill of Rights“ und natürlich auch das Habeas-Corpus-Recht.

Das Gesetz gewährt der Exekutive das außergewöhnlich weitreichende Recht, jeden Menschen auf der Welt als „ungesetzlichen feindlichen Kämpfer“ zu bezeichnen und ihn somit zu entrechten. Die CIA darf jeden von uns entführen, in „geheime Gefängnisse“ überstellen und foltern. Die derart geernteten „Beweise“ sind vor „militärischen Gerichtskommissionen“ zugelassen.

Wie das funktioniert (damals allerdings noch „illegal“), haben mehrere deutsche Staatsbürger schmerzhaft erfahren müssen, ohne – auch das gehört zu den Schandtaten dieses Jahres – ausreichend von der eigenen Regierung geschützt worden zu sein. Die Macht der Gesetzlosigkeit, bekannt aus Absolutismus und Faschismus, macht sich breit. Freiheit und Gerechtigkeit sind in ein Koma gefallen, aus dem sie nur eine weitreichende Therapie wieder zum Leben erwecken kann.

4. Irak ist offensichtlich eine Katastrophe – obwohl wir uns kein profundes Bild davon machen können, denn westliche Journalisten können kaum mehr aus der Grünen Zone in der Hauptstadt Bagdad heraus. Vielleicht schafft in dieser Hinsicht der englischsprachige Nachrichtensender von al-Jazeera ein wenig Abhilfe. Doch für wen?

Mehr als eine halbe Million Iraker sind an den Folgen der Invasion gestorben, lauter unglückliche Opfer im Kampf für die Demokratie. Für manch andere aber ist Irak eine Bonanza sondergleichen. Für Firmen wie Halliburton und Bechtel, die gewaltige Aufträge abgesahnt haben, die höchst virtuell abgerechnet wurden.

Und auch für all jene, denen es gelungen ist, sich an der systematischen Ausplünderung des Iraks zu beteiligen. Laut Schätzungen sind etwa 20 Milliarden Dollar „verschwunden“. Egal, wann die Amerikaner und ihre Verbündeten das Land wieder freigeben: Ein substanzieller Teil des irakischen Reichtums hat seine „exit strategy“ schon gefunden.

5. Die angesehene britische Journalistin Isabel Hilton, Redakteurin von opendemocracy.com, eines der weltweit besten politischen Infosites, antwortete neulich auf die Frage nach dem typischen Charakteristikum unserer Epoche mit der „Lüge“.

Die Macht der Gesetzlosigkeit, bekannt aus Absolutismus und Faschismus, macht sich breit

Tatsächlich ist auffällig, wie unverhohlen die führenden Staatsmänner der Welt (Wladimir Putin, George W. Bush und Tony Blair mögen als Hauptakteure ausreichen) samt ihrer gesamten Equipage lügen und Lügen gestraft werden, und trotzdem keine Konsequenzen ziehen und nicht gezwungen werden, Konsequenzen zu ziehen. Paraphrasiert gesagt: Es gab schlimmere Zeiten, selten aber heuchlerische.

6. Die Entwicklung zum autoritären Kapitalismus wird mit enormem Medienaufwand begründet mit dem „Krieg gegen den Terror“. Das Unsinnige und Polemische und Verlogene an dieser Strategie ist in dieser Zeitung wiederholt aufgezeigt worden und muss hier nicht wiederholt werden. Es möge ausreichen, an ein ungarisches Sprichwort zu erinnern: Die Obduktion hat festgestellt, dass der Patient an der Obduktion gestorben ist.

Wenn wir also in diesen Tagen zum Nachdenken finden und zum Erhoffen ins Neue Jahr hinein, dann wäre es schön, wenn wir nicht aufhörten, uns eine bessere Welt vorzustellen, gerade in Zeiten, in denen ein zynisches Achselzucken als profundes Weltverständnis verkleidet wird. Eine Welt ohne Ausgrenzung von Anderen, ohne Waffenproduktion, ohne imperiales Gangstertum, ohne die Diktatur des Internationalen Währungsfonds und ohne eine Wirtschaftsweise, die die Mehrheit der Menschen zu einer unwürdigen Existenz verdammt, während sie unser aller Zukunft raubt.

Es wäre schön, wenn wir träumen könnten, gegen die verächtlichenden Rufe der Pragmatiker, die Missstände allein kraft ihrer Existenz beglaubigen, während sie den Visionen jegliche Vernunft absprechen. Auch wenn 2006 ein Jahr der Rückschritte war, wir leben in interessanten Zeiten, und das heißt auch, dass wir an Kreuzungen stehen. Und dass es von uns allen abhängt, in welche Richtung es weitergehen wird.