Literarische Spurensuche

GESCHICHTE Die Lücken in der Erinnerung ihrer ukrainisch-jüdisch-deutschen Familie erforscht Katja Petrowskaja. Jetzt liest sie in Hamburg

„Das Gefühl des Verlustes trat ohne Vorwarnung in meine ansonsten fröhliche Welt“: Katja Petrowskaja, 1970 in Kiew geboren und inzwischen in Berlin lebend, wusste lange nichts von den Lücken in ihrer Familiengeschichte. Aber irgendwann wurde ihr klar, dass es nie erzählte Geschichten gab. Die vom Großvater etwa, der das KZ Mauthausen überlebte, aber erst 41 Jahre später zu Frau und Kindern zurückkam.

Petrowskaja ahnt, dass da etwas passiert ist in Mauthausen. Was es ist, versucht sie zu eruieren in ihrem Roman „Vielleicht Esther“, für das sie in Klagenfurt den Ingeborg-Bachmann-Preis bekam und aus dem sie jetzt in Hamburg liest. Sie will schärfen, was verschwommen blieb, und sie tut es auf literarisch-intuitive Art.

Warum zum Beispiel ist Petrowskajas Kiewer Großmutter freiwillig zur Schlucht Babij Jar gegangen, wo die Deutschen 1941 rund 33.000 Juden erschossen? Petrowskaja vermutet, dass die Großmutter nicht glaubte, dass die Deutschen einfach schießen würden. Doch sie erschossen sie „mit nachlässiger Routine“, schreibt Petrowskaja. Es scheint plausibel und legt einen Link zu dem, was Petrowskaja erst spät aus Andeutungen ihrer Eltern schloss: dass auch sie selbst in Babij Jar erschossene Verwandte hat. Spuren gibt es nämlich keine.

Gegen diese Namen- und Geschichtslosigkeit schreibt sie an, reist sie an, quer durch Polen und die Ukraine, um auch der Titel gebenden Esther auf die Spur zu kommen. So hieß vermutlich ihre Großmutter. Und Namen sind in der jüdischen Kultur wichtig, um nicht vergessen zu werden.

Petrowskaja reiht sich in deren Wiederbelebung – und fragt sich immer wieder, wer bürgt eigentlich für meine Vermutungen? Und so wird dieser Text, der Historie, Reisebericht und sprachliches Spiel verwebt, zu einem packenden poetologischen Experiment.  PS

■ Lesung im Rahmen der Literatur-Altonale: Di, 24. 6., 19.30 Uhr, Bücherhalle Holstenstraße