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Archiv-Artikel

portrait Ein Mann wie ein Jahrhundert

In manche Lebensläufe passt so viel, dass sich diejenigen, die in ruhigeren Zeiten aufwachsen, nur erstaunt die Augen reiben können. Erwin Geschonneck führt so ein Ausnahmeleben: Brecht- und Defa-Schauspieler, Kommunist, Antifaschist, KZ-Überlebender, für einen Oscar nominiert und seit dem heutigen Tag hundert Jahre alt. Zahlreiche Defa-Produktionen wären ohne ihn nicht vorstellbar: Unter anderem spielte er in Konrad Wolfs „Sonnensucher“ (1958) und in Frank Beyers Filmen „Nackt unter Wölfen“ (1963), „Karbid und Sauerampfer“ (1963) sowie „Jakob der Lügner“ (1974). 1993 wurde er von der Deutschen Filmakademie für sein Lebenswerk ausgezeichnet.

Auch wenn Geschonneck seit 1949 der SED angehörte, kompromittierte er sich nicht. Längst nicht jeder seiner Filme stieß in der SED-Führung und der Defa-Kommission auf Gegenliebe. Gleich die erste Hauptrolle, die er übernahm – die des Nazi-Aushilfshenkers Teetjen in Falk Harnacks „Das Beil von Wandsbek“ –, brachte ihm und dem Regisseur den Vorwurf ein, Sympathie für die Täterfigur zu wecken. „Das Beil von Wandsbek“ – die Verfilmung eines Romans von Arnold Zweig – wurde bald nach der Premiere aus dem Vertrieb genommen, später kam der Film gekürzt in die Kinos der DDR. Erst 1981 – zum 75. Geburtstag Geschonnecks – durfte er unzensiert gezeigt werden.

Geschonneck wurde am 27. Dezember 1906 in Ostpreußen geboren; sein Vater war Flickschuster, seine Mutter starb nach der Geburt an Tuberkulose. Die Familie zog nach Berlin. Zur Schule ging Geschonneck, bis er 14 war, dann verdingte er sich als Bürobote, später hielt er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Er politisierte sich in der Arbeitersportbewegung und als Mitglied von Agitprop-Gruppen. 1931 hatte er seine erste, kleine Statistenrolle in Slatan Dudows „Kuhle Wampe oder wem gehört die Welt?“.

1933 emigrierte er zunächst nach Polen und Prag, im Herbst 1934 ging er in die Sowjetunion. Vier Jahre später wurde er ausgewiesen – wiederum in die Tschechoslowakei. Als die Wehrmacht dort einmarschierte, versuchte er nach London zu fliehen. Was ihm nicht glückte – er wurde bis Kriegsende in Konzentrationslagern festgehalten. Am 3. Mai 1945 überlebte er den Untergang des Dampfers „Cap Arcona“, auf den die SS 4.000 KZ-Häftlinge getrieben hatte und der in der Lübecker Bucht sank, nachdem er von britischen Bomben getroffen worden war. Die biografischen Erfahrungen fließen in verschiedene Spiel- und Dokumentarfilme ein – etwa in Lothar Bellags TV-Film „Der Mann von der Cap Arkona“ (1981/82), in dem Geschonneck die Hauptfigur nach der eigenen Vita gestaltet. CRISTINA NORD