Warum sind viele Linke so peinlich?

In dem Würdigungsartikel der FAZ zu Jürgen Habermas’ 85. Geburtstag schreibt der Autor, der Philosoph habe „auf bewundernswerte Weise in der Geistesgeschichte der Bundesrepublik Dabeisein und Dagegensein kombiniert“. Das erinnerte mich sofort an die berühmt-verworrene Sentenz von Walter Benjamin, „nur der Einverstandene hat Chancen, die Welt zu verändern“.

Die Formel von „Dabeisein und Dagegensein“ eröffnet einen ganzen Horizont an Bedeutungen. Dagegensein ist ja leicht zu verstehen. Aber Dabeisein ist eine merkwürdig schillernde Formulierung. Dabeisein ist schwächer als Dafürsein oder gar Affirmation, setzt aber doch voraus, mit dem Gegebenen, den Umständen in gewisser Weise im Reinen zu sein. Wer dagegen und gleichzeitig dabei ist, der kritisiert das Gegebene, ohne diesem miesepetrig den Rücken zuzukehren.

„Nur der Einverstandene hat Chancen, die Welt zu verändern“, heißt also: Nur wer sich auf die Welt einlässt (und sie damit so sieht, wie sie ist), der sich die Wirklichkeit nicht als abgrundtief schlecht zurechtlegt, sondern auch die Chancen sieht, die sie bietet, hat überhaupt erst eine Chance, auf effektive Weise „dagegen“ zu sein. Da ja hinter jeder Theorie immer auch eine Emotion steht, hat das viel mit Grundgefühlen oder Mentalitäten zu tun. Pessimist oder Optimist, Nörgler oder Frohnatur –darauf lässt sich letztendlich jede Theorie oder Prototheorie zurückführen.

Denn eines ist ja ziemlich erklärungsbedürftig: Wenn man, wie ich, der Meinung ist, dass die Linke generell recht, die Rechte im Allgemeinen unrecht hat, warum ist die Linke dann oft so lächerlich? Montagsdemonstranten, die skurrilen Verschwörungstheorien anhängen (dass die Nato der bewaffnete Arm des amerikanischen Federal Reserve Board ist, ist hier noch die sympathischste); hyperventilierende Antisomethings, zwischen peinlich und aggressiv changierend, die überall ausgeklügelte gemeine Pläne der Herrschenden und ihrer Büttel wittern, die unter Verfolgungswahn nicht leiden, sondern ihn genießen; Leute zum Fremdschämen wie Dieter Dehm, der schlechte Gedichte auf Parteifreunde reimt; Leute, die alles bezweifeln, was in der gedruckten Zeitung oder in ordentlich gebundenen Büchern steht (weil das ja Mainstreammedien sind) und jeden Unsinn sofort glauben, wenn er auf bizarren Internetportalen auftaucht (weil das ja die Gegenöffentlichkeit ist); Leute, die wirklich meinen, Steinmeier wäre ein Kriegstreiber und Putin ein vom faschistischen Westen und bösen Obama bedrängtes Opfer. Mit einem Wort: Wenn die Linke grundsätzlich recht hat, wieso sind dann so viele Linke vollkommene Irre? Kaum öffne ich Facebook und Twitter, schon bin ich versucht, auszurufen: „Ist heute denn wieder Internet-Tag in der Psychiatrie!?“ Doch das wäre eine politisch höchst inkorrekte Diskriminierung der Psychiatrieklienten.

Warum also haben Linke überdurchschnittlich häufig einen Vollknall? Vielleicht ist es ja so: Dagegensein birgt die Gefahr der Fundamentalopposition. Die Welt schlecht, mithin für verbesserungswürdig zu halten, lässt Leute dazu neigen, jedes Detail der Wirklichkeit als Indiz für die hoffnungslose Schlechtigkeit der Welt zu nehmen. Ergebnis: Ein Tunnelblick, in dem man sich dann auch noch unter Seinesgleichen bestärkt. Wie aber soll man die Welt verbessern mit Leuten, mit denen nichts Sinnvolles anzustellen ist?

Besonders blöd ist es natürlich, wenn die Paranoiden recht haben, was leider auch bisweilen vorkommt. In Wien sitzt gerade ein junger Mann, Josef S., seit bald sechs Monaten in Untersuchungshaft. Er ist kein Haudrauf-Autonomer, sondern ein Linkssozialist, der im Jänner an einer Antifa-Demo teilnahm, die etwas aus dem Ruder lief.

Polizei und Staatsanwaltschaft werfen ihm so ziemlich jeden Gesetzesbruch vor, der bei dieser Demo begangen wurde. Nichts spricht dafür, dass Josef S. (dem der Jenaer Oberbürgermeister jetzt demonstrativ einen Preis für Zivilcourage verliehen hat), auch nur irgendeine Straftat begangen hat, außer ein glaubwürdigkeitsdefizitärer Polizist, der als Zeuge aussagt, viele Straftaten des Josef S. gesehen zu haben, sich aber andauernd korrigieren muss, weil ihm immer wieder Falschaussagen nachgewiesen werden können. Trotzdem sitzt Josef S. weiter in Untersuchungshaft, weil was zählt schon der Rechtsstaat, wenn man ein Exempel an einem deutschen Demotouristen statuieren will? Das allein zeigt schon, wie es um Staatsanwaltschaft und Polizei in Wien steht. Es gibt wohl kaum jemanden, der den Strafverfolgungsbehörden nicht zutraut, ein übles Lügen- und Verleumdungsgebäude zu präsentieren.

In dem Fall bin ich beim Dagegensein voll mit dabei!

ROBERT MISIK