Muss man die Bahn liebhaben?
JA

WINTERMÄRCHEN Nach dem Kältekrampf sind die Kunden sauer, Politik und Bahnvorstand zerstritten. Aber irgendwie ist die Bahn doch auch unser Herzblatt

Die sonntaz-Frage wird vorab online gestellt. Immer Dienstagnachmittag. Wir wählen interessante Leserantworten aus und drucken sie in der nächsten sonntaz.

taz.de/sonntazstreit

Boris Palmer, 38, Tübinger Oberbürgermeister von den Grünen, führt eine Fernbeziehung

Meine neue Flamme ist der DB Navigator. Wenn jeder zweite Zug verspätet ist, zeigt mir das Smartphone völlig neue Anschlussbeziehungen an. Im Alltag haben die Bahn und ich zurzeit eher Beziehungsstress. Sie will mich künftig in Tunneln unter Stuttgart hindurchschleusen wie Expressgut. Fahrten nach Brüssel enden regelmäßig mit technischen Problemen vor Aachen oder auf Langsamfahrstrecken in den Ardennen. Wenn mal kein ICE fehlt, dann fällt der Zug wegen Lokführermangel oder einer defekten Weichenheizung aus. Aber fremdgehen und Auto fahren? Da stelle ich mir lieber vor, dass Tübingen in das Netz der Schweizer Bahnen aufgenommen wird. Halbstündlich Züge in alle Richtungen, pünktlich auf die Minute, zuverlässig im Winter wie im Sommer. Klassischer Fall von Liebesblindheit: Solange die Bahn ist, wie sie ist, liebe ich sie eben so, wie ich sie gern hätte.

Matthias Wissmann, 62, ist seit 2007 Präsident des Verbands der Automobilindustrie

Seit 125 Jahren gibt es ein enges Zusammenspiel zwischen Bahn und Auto, das bis heute anhält: Ich denke an die rollende Landstraße, wenn Lkws auf einem Güterzug die Alpen queren und bis zum Bestimmungsort weiterfahren. Oder an die Enkelkinder, die von den Großeltern mit dem Auto am Bahnhof abgeholt werden. Jeder zweite Pkw, der in Deutschland fertig vom Band rollt, wird mit der Bahn transportiert. Das ist ein Zeichen, wie sehr wir Automobilisten die Bahn mögen. Sommerhitze oder Schneechaos machen der Bahn zu schaffen, dem Auto gelegentlich aber auch. Die Bahn und das Auto haben sich nie gestritten. Allenfalls ihre Anhänger: Wer ist schneller, umweltfreundlicher oder pünktlicher? Die Herausforderungen von morgen werden wir mit der Bahn gemeinsam meistern. Die alten Grabenkämpfe sind lange passé.

Wolfgang Fengler, 59, Professor für Bahnanlagengestaltung, war Bahnhofsvorsteher

Die Deutsche Bundesbahn warb einmal mit dem Motto „Alle reden vom Wetter – wir nicht.“ Dann kamen Rationalisierung, Zentralisierung, Privatisierung, Personalabbau. Die Folgen zeigen sich überall, es ist der Niedergang des öffentlichen Sektors. Er ist uns zwar lieb, aber nicht mehr teuer. Das primäre Ziel eines Privatunternehmens ist die Mehrung seines Gewinns. Das trifft im Verkehrssektor aber auf das Problem, dass Verkehrsleistungen nicht auf Vorrat produziert werden können. Lokomotiven nur für die Extremwetterlagen vorzuhalten und sonst im Depot stehen zu lassen mehrt nicht den Gewinn. Trotzdem: Lieb haben muss man die Bahn schon, denn nur sie ist heute schon elektromobil, im Personen- und im Güterverkehr. An den voll elektrischen 40-Tonner auf der Autobahn kann ich als Ingenieur nicht glauben, es sei denn: mit Stromabnehmer. Dann lieber gleich die Bahn!

Friederike Stramm, 28, Speditionskauffrau, kommentierte die Frage auf taz.de

Die Leute, die sich am meisten über die Bahn aufregen, fahren eh mit dem Auto zur Arbeit. Mein Pendlereindruck ist, dass die meisten Fahrgäste die Bahn sehr schätzen. Meine Strecke zur Arbeit: Köln–Düsseldorf in 45 Minuten plus 20 Minuten zum und vom Bahnhof. Seit ich Bahn fahre, lese ich wieder Bücher. Das Aufstehen morgens fällt viel leichter, wenn man weiß, gleich kann man noch mal die Augen zumachen. 208 Euro pro Monat kostet die Karte. „Bahnfahren ist viel zu teuer“, werdet ihr Autofahrer jetzt sagen. Hier die Auto-Alternative: Köln–Düsseldorf in anderthalb Stunden, täglich Stau, Benzin 300 Euro plus Versicherung, Steuer, Reparaturen, macht 450 Euro. Zehn Minuten Parkplatzsuche vor der Haustür. Wutausbrüche im Stau. Die Bahn ist für mich und viele andere immer noch die bequemste und günstigste Alternative.

NEIN

Alex Kuhr, 26, Unternehmer, ist Mitgründer der Busmitfahrzentrale deinbus.de

Liebe Deutsche Bahn, wie gerne hätten wir dich lieb gehabt?! Wir hätten so schön gemeinsam in die Zukunft fahren können, du auf der Schiene, wir auf der Straße. Dabei haben wir zu dir wie zu einem großen Bruder aufgeschaut. Du hast ja auch viele Vorzüge: Wir bewundern deine Schnelligkeit und in wie viele Orte du jeden Tag fährst. Aber du bist eine Lady mit Anspruch – und mit knappem Geldbeutel kann man sich dich oft nicht leisten! Liebe braucht leider keine Erwiderung, und du Bahn hast uns nicht lieb! Zerrst uns vor Gericht und willst unbedingt, dass wir unsere Busmitfahrzentrale einstellen. Liegt es daran, dass wir günstiger als du durchs Land fahren? Dass wir umweltfreundlicher sind? Ist es Neid, weil unsere Fahrgäste uns gern haben? Oder liegt es daran, dass du alter Monopolist den ganzen Kuchen für dich allein haben möchtest? Du hast dich gehen lassen in den letzten Jahren! Etwas Wettbewerb könnte dir ganz guttun, Schatz. Wir bringen dich in Schwung. Dann magst du dich sicher auch selbst wieder lieber!

Annett Gröschner, 47, Schriftstellerin und Journalistin, schreibt auch über das Bahnfahren

Von Liebe kann nicht die Rede sein, von Zuneigung auch nicht mehr. Aber für mich gibt es keine Alternative zur Bahn. Ich habe kein Auto, ich muss jede Woche 800 Kilometer fahren. Inzwischen bekomme ich Wutanfälle, wenn ich von einer Computerstimme um Verständnis für 60 Minuten Verspätung gebeten werde. Soll ich Verständnis für einen Bahnmanager haben, der sich hinstellt und sagt, es geht voran und die anderen waren viel schlechter? Seit über fünfzehn Jahre betreibt der Bahnvorstand mit Unterstützung der Politik Gewinnmaximierung. Der Fahrplan ist ein Märchenbuch, ihr Ideal Hochgeschwindigkeitszüge, die ohne Fahrgäste mit Kindern, Fahrrädern und Gepäck auskommen.

Claus-Peter Hutter, 55, ist Koautor des „Bahnhasser“-Buchs und Präsident von NatureLife

Der Zug ist aus meiner Sicht abgefahren. Überfüllte Waggons, defekte Klimaanlagen, verstopfte Toiletten, Verspätungen ohne Ende wegen Schnee oder Regen. Nach außen gibt man sich modern und zukunftsorientiert, aber ganz offensichtlich gelingt es nicht, Dinge, die meist vorhersehbar sind, in den Griff zu bekommen. Dass es im Dezember schneit und im August heiß ist, das ist doch wirklich nichts Neues. Dass zehn Jahre alte Züge an der einen oder anderen Stelle nun gewartet werden müssen, auch das war klar. Mir geht es schon lange nicht mehr um ein paar Minuten Verspätung oder einen verpassten Anschlusszug. Ein bisschen Entgegenkommen kann man auch von den Kunden erwarten. Doch genau hier liegt wohl der Kern des Problems: Offensichtlich hat man noch nicht verstanden, dass wir Kunden sind.

Uli Moll, 48, freier Autor, dessen Herz links schlägt, kommentierte die Frage auf taz.de

Lieben müssen? Ja, wo sind wir denn hier? Ich „muss“ erst mal gar nichts! Basta! Ich darf aber, wenn ich will. Ich bin mit der Bahn aufgewachsen, sie hat mich durch die Lande transportiert – und nachdem ich alt genug war, durfte ich dabei auch ein Bier trinken. Und die Bücher, die ich ohne die Bahn nie gelesen hätte: Regalmeter um Regalmeter Reiseerinnerungen, meist aus Verlegenheit an einem Bahnhof erstanden, für die Fahrt – und oft der Beginn einer wunderbaren Vorliebe für den Autor. Service? Service ist nicht, wenn einem Anzugträger der Fahrpreis erstattet wird wegen der Verspätung, Service ist, wenn dem gestrandeten Nahverkehrsreisenden auf einem Provinzbahnhof ein Kaffee spendiert wird. Die Bahn entdeckt man für sich oder nicht. Und Klugschwätzer, die meinen, dass man die Bahn optimieren müsste, die sollten mal Bahn fahren, anstatt Aufsichtsratssessel zu wärmen.