Ein Gesicht geben

FESTIVAL Die Theaterformen in Braunschweig tasten sich beschwörend an den Ersten Weltkrieg heran

Es verhält sich mit dieser Performance ein bisschen wie mit einer Geisterbahn. Steht man draußen davor, werden enorme Erwartungen erweckt. „Sounds like war: Kriegserklärungen“, ein theatraler Blick auf die verworrene Situation des Jahres 1914. Wer erklärt wem, wann, warum den Krieg? Welche Logik steckt hinter dem gemeinsamen Schlittern in einen großen Krieg und, die Gretchenfrage, welche Rolle spielt denn nun Deutschland dabei? Ein spannendes Thema für das Theater also.

Auch die Ausgangssituation beim Betreten der sehr kleinen Studiobühne macht neugierig. Da sitzen die drei Performer von andcompany&Co. mit stilisierten Pickelhauben hinter einem Konferenztisch, vor dem zwei ebenfalls stilisierte Geschütze in die Höhe ragen. Rechts davon flackert auf einem Bildschirm eine Zahl, 1914. Viel wichtiger als die Ausstattung ist der Ton. Am DJ-Equipment mischt einer der drei live einen Soundteppich, der schon vor Beginn der Performance wie eine Mischung aus Echolot, Funkgeknister und militärischem Tamtam den Raum füllt.

Was dann jedoch folgt, ist das böse Erwachen, denn wie bei fast jeder Geisterbahn hat der Innenraum nur wenig mit der pompösen Fassade zu tun. Da blinkt hier ein Lämpchen, da kracht dort ein Sound, da flackert ein Piktogramm eines Panzers über die Leinwand. Da philosophiert der niederländische Part des Trios, ob der Krieg bereits in der deutschen Sprache angelegt sei, während sich die anderen beiden bemühen, die Formulierung, „jemanden den Krieg erklären“, durch unendliche Wiederholung sprachlich zu hinterfragen. Dazwischen krachen immer mal wieder, wie in einer Büttenrede, laute Baams durch den Raum. Zwei Schalter können die Performer dafür in ihrem Kriegscockpit drücken, mit dem ihnen weder intellektuell noch musikalisch eine bemerkenswerte Auseinandersetzung gelingen will, sondern eher eine künstlerische Irrfahrt, bei der man, auch das wie in einer Geisterbahn, froh ist, als der Budenzauber vorbei und man wieder draußen ist.

Ebenfalls eine Geisterbeschwörung, wenn auch eine mit einem ganz anderen Format, ist am selben Abend in „Statue of Loss“ zu sehen. Wieder geht es um den Ersten Weltkrieg, jedoch diesmal um diejenigen unter den Opfern, über die seit fast 100 Jahren keiner spricht. Auf einer leeren Bühne mit drei kleinen, altmodischen Röhrenfernsehern will Faustin Linyekula jener schwarzen Soldaten gedenken, die für ihre belgischen Unterdrücker kämpften und fielen. Linyekula, der im Kongo arbeitet, war auch im vergangenen Jahr einer der Künstler, die zu dem Themenschwerpunkt der Aufarbeitung kolonialer Vergangenheit eine neue Produktion beitrugen.

Gesang eines Gefangenen

Er wolle uns nicht mit Statistik nerven, betont Linyekula zu Beginn, sondern seinen gefallenen Landsleuten ein Gesicht geben. Dreh- und Angelpunkt für die Rückschau in die Vergangenheit ist eine alte Audioplatte, auf der ein deutscher Soldat den Gesang eines schwarzen Gefangenen aufgenommen hat. Während wir den knisternden und knackenden Tönen aus einer anderen Zeit lauschen, erklärt Linyekula, dass das Besondere an dieser Platte ihre Entstehung ist. Noch im Ersten Weltkrieg habe ausgerechnet ein deutscher Soldat die Zeit gefunden, den Gesang eines Gefangenen aufzunehmen.

Was dann folgt ist ein einstündiger Totentanz, zu dem es einem nicht leichtfällt, einen Zugang zu gewinnen. Es werden Namen toter Soldaten vorgelesen. Linyekula schminkt sich mit weißer Farbe Streifen auf den Körper, tanzt, murmelt und macht sich, das ist deutlich zu spüren, in seinen Bewegungen emotional die Katastrophe seiner Landsleute zu eigen.

Ganz zum Schluss gibt es noch die Information, dass bis heute kein Denkmal an die gefallenen, afrikanischen Kämpfer für Belgien erinnert, nur Performances wie die seine, die die Erinnerung auch ohne konkreten Ort weitertragen. ALEXANDER KOHLMANN