Chaos-Hacker gegen Online-Schnüffler

Innenminister Schäuble will privaten Internet-Nutzern über die Schulter schauen: Die neuen Überwachungsmaßnahmen beschäftigen den Chaos Computer Club auf seinem Kongress. Manche sehen bereits Orwells Horrorvision „1984“ wahr werden

AUS BERLIN NICO POINTNER

Als der Vortrag beginnt, ist kein Platz im Saal mehr frei. Viele der über 200 Zuhörer sitzen auf dem Boden, lehnen an der Wand, stehen am Eingang. Die Luft ist stickig. „Hier muss doch irgendwo ein Sicherheitsloch sein“, sagt ein Hacker nach dem vergeblichen Versuch, eines der verschlossenen Fenster zu öffnen. Die Soziologin Christine Ketzer ist hinten im Saal nur noch leise zu hören. „Orwells Roman ‚1984‘ mutet geradezu als Gebrauchsanweisung für die aktuelle Überwachungspolitik an“, sagt sie, „doch wer kontrolliert die Kontrolleure?“

Kaum ein Vortrag beim 23. Jahreskongress des Chaos Computer Clubs (CCC) in Berlin war so beliebt wie Ketzers Abhandlung des Themas Überwachung. Für die Computerfreaks ist diese Problematik hochinteressant – mehr denn je steht die virtuelle Privatsphäre von PC-Nutzern auf dem Spiel. So lautete das Messemotto: „Who can you trust?“

Der große Bruder ist auf dem Vormarsch: Immer neue sicherheitspolitische Maßnahmen sollen vor Anschlägen und Straftaten schützen und die Privatsphäre durchleuchten. „Alle zwei Wochen kommt eine neue Baustelle hinzu“, sagt CCC-Sprecher Florian Holzhauer. Erst vor wenigen Tagen erneuerte Innenminister Wolfgang Schäuble seine Forderung nach einer Online-Überwachung privater Computer. Wo früher Hausdurchsuchungen beantragt werden mussten, soll die Polizei künftig online auf die Rechner zugreifen können. „Es kann keinen Zweifel geben, dass wir diese Möglichkeit brauchen“, sagte Schäuble. Das Justizministerium prüft derzeit die Rechtsgrundlage für den Vorstoß. „Damit haben wir bald staatlich bezahlte Schnüffler in unserer Privatsphäre“, sagt Holzhauer.

Für den Chaos Computer Club ist der Vorschlag eine Einschränkung von Bürgerrechten ohne jede Rechtfertigung. „Früher war es das Schlagwort Kinderpornografie, heute ist es der Deckmantel Terror“, sagt Holzhauer, „dabei ist noch kein Anschlag vollständig im Netz geplant worden.“ Nicht nur das Internet sei betroffen. Ob Vorratsdatenspeicherung bei Telefonanschlüssen oder Mautbrücken als Überwachungsinstrument – „hier passiert ganz offiziell das, was früher in der DDR verdeckt betrieben wurde“, sagt Holzhauer, „und der Otto Normalverbraucher ist sich nicht über die Konsequenzen bewusst.“ Das gelte unter anderem auch für elektronische Kundenkarten von Kaufhäusern oder Wahlcomputer.

Der CCC versucht seit Jahren, die Menschen über die Risiken der staatlichen Kontrolle aufzuklären. Immer wieder spüren Mitglieder Sicherheitslücken in Programmen auf. „Das ist Hacken im konstruktiven Sinn“, so Holzhauer. Gemeinsam mit einer holländischen Initiative haben Chaos-Hacker beispielsweise einen niederländischen Wahlcomputer zerlegt: „Das Gerät war teuer, schwer bedienbar und unsicher – wir haben darauf Schach installiert und ihn dann einfach lahmgelegt.“ Die rechtliche Grenzwertigkeit ihrer Aktionen verteidigt der Chaos Club mit der Hacker-Ethik. „Auch wenn unsere Aktionen vielleicht nicht immer in den gesetzlichen Wortlaut passen, menschlich-moralisch sind sie gerechtfertigt“, findet der Sprecher. Damit stoßen die Hacker auch in der Politik auf Interesse. „Unsere Biometrie-Experten beraten sogar den Bundestag“, berichtet Holzhauer.