: Überwintern in zugigen Baracken
AUS HERNE MORITZ SCHRÖDER
Zwei kastenförmige Baracken stehen mitten auf einem braunen Schotterfeld. Ein etwa zwei Meter hoher Metallzaun umgibt die Gebäude. Wer auf das Gelände will, muss zunächst am Pförtner vorbei. Auf und vor den Baracken sind Satellitenschüsseln montiert. „Da wohnen Asylanten“, sagt ein älterer Passant mit abschätzigem Blick. Er deutet dabei auf die abblätternde weiße Farbe an den Außenwänden. Im Norden von Herne, vom Park eines ansehnlichen Renaissance-Wasserschlosses nur durch eine Straße getrennt, leben 225 Flüchtlinge, viele von ihnen inzwischen seit mehreren Jahren.
Erst nach einem kurzen Anruf bei seinem Vorgesetzten lässt der Wachmann Besucher das Gelände betreten. Die müssen durch zwei Gittertüren. Ein angerostetes Metallschild an der zweiten Tür weist die Gäste auf Deutsch, Englisch und Französisch an: „Bitte Ausweis unaufgefordert vorzeigen“. Dorothea Schulte darf ihren in der Tasche lassen. Der Pförtner kennt ihr Gesicht von zahlreichen Besuchen. Mit ihrem bunten, seidenen Schal und den rötlichen Haaren wirkt sie zwischen den heruntergekommenen Containern etwas verloren. Die grüne Bürgermeisterin von Herne engagiert sich seit langem für die Schließung des Flüchtlingslagers, das es seit 1993 gibt. Bis die Stadtverwaltung unter Führung von SPD-Oberbürgermeister Horst Schiereck auf die Forderungen reagierte, bedurfte es aber einer hartnäckigen Protestinitiative, Podiumsdiskussionen und vieler Zeitungsartikel.
Umsiedlung beschlossen
Am 12. Dezember hat der Stadtrat einstimmig beschlossen, die Anlage dicht zu machen und die BewohnerInnen in Wohnungen unterzubringen. Damit soll Herne dem Beispiel von Köln und Dortmund folgen, wo solche Wohnanlagen für Flüchtlinge inzwischen abgeschafft wurden. Bürgermeisterin Schulte bezeichnet die Lebensbedingungen in Herne als „unmenschlich“.
Was sie damit meint, offenbart sich im Innenraum eines der doppelstöckigen Container. Von einem langen Hausflur mit grauem PVC-Boden gehen links und rechts die Zimmer ab. Auf jede Tür ist eine Nummer gedruckt. Schulte betritt Zimmer 71. Auf kleinstem Raum drängen sich dort Sofa, Couch, ein niedriger Tisch, Stereoanlage und Fernseher. Direkt neben der Eingangstür des 16-Quadratmeter-Zimmers steht eine schmale Metallkabine mit Toilette und Dusche. Drei Schritte reichen von der Eingangstür bis zur gegenüber liegenden Wand. Das ist das Wohnzimmer der Ossos aus Syrien, einer von 24 Familien in dem Containerlager, die zusammen mit 109 Einzelpersonen dort leben.
Die Enge und ein kalter Windzug, der durch die geschlossenen Fenster dringt, lassen keine Gemütlichkeit aufkommen. Vom Flur sind bei geschlossener Tür permanent die Stimmen und Schritte der etwa 60 Bewohner dieser Etage zu hören. „Oft kann ich deshalb bis zwei Uhr nachts nicht einschlafen“, sagt eine 20-Jährige aus der Familie Osso, die ihren Vornamen für sich behalten will. Sie hat ein knallpinkes Oberteil an, ist in der Nase gepierct und trägt mehrere Ringe an der linken Hand. „Normal ist das hier nicht“, sagt sie. Damit meint die Syrierin nicht nur den Dauerlärm. Um die Zustände zu demonstrieren, führt sie die Gäste über den Flur in den nächsten Raum. Der hat die gleiche Größe wie der vorige. An der Wand stapeln sich ein Dutzend Matratzen: das Schlafzimmer. „Wenn wir die Matratzen auslegen, ist der ganze Boden bedeckt“, sagt sie.
Das Improvisieren gehört zum Alltag für die siebenköpfigen Familie, die seit gut fünf Jahren in dem Lager lebt und dort vier Zimmer bewohnt. Die sechs Jahre Mindestaufenthalt für ein dauerhaftes Bleiberecht in Deutschland haben die Ossos damit knapp verfehlt. Seit kurzem können geduldete Flüchtlingsfamilien ein Bleiberecht beantragen, wenn sie seit langem in Deutschland leben. Die Ossos werden sich weiterhin alle drei Monate mit einer Duldung begnügen müssen. Damit gehören sie zum Regelfall. 75 Prozent der Bewohner der Wohncontainer haben eine Duldung, besitzen also keinen festen Aufenthaltstitel in Deutschland und können jederzeit abgeschoben werden. Bei den übrigen Personen läuft das Asylverfahren noch.
Im Hausflur betasten die Osso-Kinder Löcher in der Wand. Auch viele Türen haben Löcher. Über eine Treppe gehen die Kinder in die erste Etage. Dort riecht es nach gebratenem Reis und Fleisch: In der türlosen Gemeinschaftküche, einer von drei für die 225 Personen, wird gerade etwas gebraten. Im Küchenraum fahren zwei Kinder mit Bobbycars zwischen den Beinen der Erwachsenen herum. Von der Decke aus wird alles von einer Kamera beobachtet. Auch am Außengebäude hängen einige Kameras. Laut Stadtverwaltung ist das nötig, um die Flüchtlinge vor Übergriffen zu beschützen. Die jedoch empfinden die Kameras eher als Überwachung, mittels derer die Behörden sicherzustellen wollen, dass die Asylbewerber ihre Residenzpflicht einhalten, also der Wohnanlage nicht über längere Zeit fernbleiben.
Schimmel und Ungeziefer
Zahlreiche andere Menschen bevölkern inzwischen den Flur, der von den lauten HipHop-Beats aus einem der Zimmer erfüllt ist. In ihrem engen Zimmer wippt eine Asiatin ihr Baby auf dem Schoß. In einem anderen Raum dampft es aus einem Kochtopf. Die Kochplatte steht vor einem metallenen Doppelstockbett und passt gerade so zwischen die Kisten und Regale, die an der Wand stehen. Die Bewohner scheinen daran gewöhnt zu sein, beobachtet zu werden. Viele zeigen von sich aus, unter welchen Bedingungen sie in den Containern leben. Schnell wird klar, dass dunkle Schimmelspuren an den Außenwänden der Duschkabinen und über den Waschbecken hier noch das kleinste Problem sind. Ein Mann mit Zigarette im Mundwinkel präsentiert seine defekte Duschkabine. Die Außenwand lässt sich mit wenig Kraft ablösen. Eine Frau ruft alle her, um zu zeigen, dass der Boden in ihrem Zimmer unter dem PVC nass ist.
Die Feuchtigkeit zieht Ungeziefer an. „So bald nachts das Licht ausgeht, sind überall Kakerlaken“, erzählt Gohdar Ali Hassen, ein 18-jähriger Iraker, dessen Familie ebenfalls seit gut fünf Jahren in dem Lager lebt. Auf der Straße würde niemand vermuten, dass er aus solchen Verhältnissen kommt. Mit seiner Nike-Mütze und dem Kinnbart wirkt er modisch und gepflegt. In der Hauptschule, die er bis vor zwei Jahren besucht hat, wurde er einmal ausgelacht, erzählt er, weil aus seiner Schultasche eine Kakerlake gekrabbelt kam.
Große Sorgen bereitet Ali Hassen seine Mutter. Sie hat eine chronische Bronchitis und Depressionen. Ihr Sohn zeigt ein Schreiben des Arztes. Sie benötige eine „trockene Wohnung mit ruhiger Umgebung“, steht da. „Trotzdem hat die Ausländerbehörde sie nicht in eine eigene Wohnung ziehen lassen“, ärgert sich Ali Hassen. Obwohl er inzwischen bei seiner deutschen Verlobten wohnt, kommt er oft her, um sich um seine Mutter zu kümmern, wenn es ihr besonders schlecht geht.
Die Sozialarbeiterin des Lagers, eine Frau Anfang 30 mit hellbraunem Haar, kümmere sich um solche Probleme nicht, werfen ihr einige Bewohner vor. Auch greife sie nicht ein, wenn Eltern ihre Kinder nicht zur Schule schicken. Oft würden die Flüchtlinge direkt wieder weggeschickt, wenn sie ihre Probleme schilderten. „Die nennen wir nur Chefin“, sagt eine Bewohnerin. Die Sozialarbeiterin selbt möchte mit der Presse nicht sprechen, sie verweist auf die Sprecherin der Stadtverwaltung.
„Die Flüchtlinge werden in Herne einfach nicht ernstgenommen“, ärgert sich Bürgermeisterin Schulte. Durch die Proteste der vergangenen Monate wissen aber inzwischen die meisten Herner von den Baracken in ihrer Nachbarschaft. „Die leben da drin ja wohl ganz schäbig. Ich finde es gut, wenn das Lager nun endlich geschlossen wird“, sagt eine ältere Frau, die auf dem Bürgersteig vor dem Zaun steht und argwöhnisch auf die Satellitenschüsseln blickt. Die wirken dort ebenso fehl am Platz wie das Lager selbst. Zwischen den Containern schaukelt ein Weihnachtsbaum mit glänzend roten Kugeln im Wind.