: Alois Schlumpheimer und der derzeit nicht präsente Düsseldorfer Senf
Abgründe des Anlassjournalismus: Weil es nur der 280. Geburtstag ist, weiß heute kaum jemand etwas über das höllisch scharfe, aber äußerst wohlschmeckende Nahrungsmittel
Beginnen wir mit Alois Schlumpheimer. Wäre der ein außergewöhnlich guter Nachwuchsschriftsteller, man hörte zu seinen Lebzeiten wenig von ihm. Zwei, drei Mal fände er Erwähnung, weil er einen Preis gewonnen hat. Einmal müsste er auf Geheiß seines Verlages im ZDF-„Nachtstudio“ sitzen, weil sein jüngstes Buch „Donnerschlag“ zum Diskussionsthema „Wetterkapriolen“ passt. Und ein anderes Mal noch möchte ihn das Reiseressort einer Wochenzeitung auf die Osterinseln schicken, damit er einen Artikel im Schlumpheimer-Stil inklusive Hotel- und Restaurantempfehlungen schreibt.
Kurz darauf aber wird es wieder ruhig um den Autor. Vielleicht ist Alois Schlumpheimer auch gar nicht interessiert an Rummel um seine Person. Schwer zu sagen, da es ihn nicht gibt – beziehungsweise noch nicht gibt („Es wurden keine mit Ihrer Suchanfrage übereinstimmenden Dokumente gefunden“).
Verlegen wir Alois Schlumpheimers Wirken aber in die Vergangenheit, werden die schlumpheimerfreien Jahre knapp. „Heute vor 70 Jahren erschien Alois Schlumpheimer Roman ‚Donnerschlag‘“, heißt es dann, außerdem: „Heute vor 100 Jahren starb der Schriftsteller Alois Schlumpheimer“; „Heute vor 75 Jahren erhielt Alois Schlumpheimer den Käthe-Göttels-Preis“; „Vor 60 Jahren begann Alois Schlumpheimer seinen berühmten Briefwechsel mit Beatrice Tournier“, oder auch „Alois Schlumpheimer, der heute 150 Jahre alt geworden wäre …“ – „Wäre er nicht!“, schnauzt man dann das Radio an, „Kein Mensch wird 150 Jahre alt!“
Dem Radio ist das egal. Beziehungsweise den Rundfunkjournalisten, genau wie den Zeitungs- und Fernsehredakteuren. Zu oft gibt die Nachrichtenlage nichts Neues her – Sendezeiten und Zeitungsspalten müssen aber trotzdem gefüllt werden, idealerweise mit neuen Gedanken zu alten Themen. Aus diesem Grund wurde der Anlassjournalismus erfunden; mitsamt seinen goldenen Regeln, die einfach zu merken sind. Regel Nummer eins: Anlassjournalismus funktioniert in Fünfer- und Zehnerschritten. Regel Nummer zwei: Ab der Zahl 200 sind nur Fünfzigerschritte zugelassen. In der Praxis heißt das, jeder kann über alles berichten, so lange sich die Geschichte mit einer runden Zahl in Verbindung bringen lässt. Der fünfte Jahrestag eines Schiffsuntergangs darf danach Anlass sein zu fragen, wie um es die Sicherheit auf den Weltmeeren bestellt ist, der sechste, siebte oder achte jedoch nicht.
Womit wir nun endlich zum Düsseldorfer Senf kommen. Der feierte im letzten Jahr einsam und allein seinen 280. Geburtstag. Gemäß der goldenen Regel Nummer zwei erinnerte niemand daran, dass dieses wohlschmeckende, höllisch scharfe Nahrungsmittel 1726 von Theodor Esser in Deutschlands erster Senffabrik in Düsseldorf hergestellt und von dort aus „an entlegene Orte“ versandt wurde. Keine Sondersendung zeigte, wie die steinerne Senfmühle sich einst drehte, kein Feuilleton brachte eine nachdenkliche Untersuchung der Frage, ob sich das zerrüttete Verhältnis zwischen Düsseldorf und Köln womöglich nicht nur auf die Worringer Schlacht zurückführen ließe, sondern auch auf Kölner Produktpiraten, die unerlaubt „aechten Düsseldorfer Mostard“ herstellten.
Und schlimmer noch: So geht das schon seit 30 Jahren, seit dem 250. Senfgeburtstag. Wer heute ein Düsseldorfer Schulkind befragt, was der blaue Anker und die Buchstaben ABB auf dem traditionellen grauen Senftopf zu suchen haben, wird kaum zu hören bekommen, dass dieses Design vom späteren Senffabrikinhaber Adam Bernhard Bergrath stammte.
Ganze Generationen wachsen inzwischen ohne Senfkenntnisse auf – und weitere werden ihnen folgen. Denn selbstverständlich wird auch der 285. und 290. Senfgeburtstag nicht gewürdigt werden – uns stehen 20 lange Jahre ohne Senfanlass ins Haus. Und ob dann, wenn man es zum 300. Geburtstag aber so richtig krachen lassen will, überhaupt noch jemand im Mosterttöpfchenkostüm im Düsseldorfer Karneval tanzt, was wiederum ein schöner Anlass wäre, von der ersten deutschen Senffabrik zu erzählen, muss stark bezweifelt werden.
Ich sehe nur eine Lösung: Alois Schlumpheimer muss möglichst bald aus dem Nichts auftauchen, und sein erster Roman soll „Senf“ heißen und in Düsseldorf spielen. Man bedenke die Möglichkeiten, die sich ergeben, wenn „Senf“ seit fünf Jahren die Bestsellerliste anführt.
CAROLA RÖNNEBURG