In Jussufs Reich

ELSE LASKER-SCHÜLER Die expressionistische Dichterin wird im Hamburger Bahnhof als großartige Zeichnerin gewürdigt

Else Lasker-Schülers androgyne Prinzen und Häuptlinge sind Prototypen der Großstadtindianer

VON ACHIM DRUCKS

Jussuf, der Prinz von Theben, ist zurück und mit ihm sein Hofstaat: Schlangen- und Dolchtänzer, Feuerfresser, jüdische Häuptlinge, die Töchter des Emirs von Afghanistan. All diese Figuren sind Bewohner eines imaginären Orients, kreiert von Else Lasker-Schüler. Jussuf ist ihr Alter Ego, eine Rolle, mit der sie spielt – im Leben wie in ihren Texten und Bildern. Der ewig junge Prinz von Theben reist, gehüllt in leuchtend farbige Gewänder, auf dem Rücken von Kamelen oder Bisons durch Zeiten und Kulturen. Wie Virginia Woolfs Orlando bewegt er sich zwischen den Geschlechtern, ist männlich und weiblich zugleich. In Berlin sei sie Jussuf „am intensivsten gewesen“, schreibt Lasker-Schüler 1935 nach ihrer ersten Palästinareise in einem Brief aus dem Schweizer Exil. Die Sehnsucht nach dieser Stadt, aus der sie als Jüdin kurz nach ihrer Ehrung mit dem Kleistpreis, der bedeutendsten Auszeichnung für deutsche Literaten, emigrieren musste, wird sie bis zum Tod in Jerusalem im Januar 1945 nicht verlassen.

Deshalb ist es gut, dass „Else Lasker-Schüler – Die Bilder“ jetzt in Berlin zu sehen ist. Die großartige, vom Jüdischen Museum in Frankfurt am Main konzipierte Schau wird allerdings nicht, wie es die kunsthistorische Chronologie nahelegen würde, in der Neuen Nationalgalerie gezeigt, sondern im Hamburger Bahnhof, dem „Museum für Gegenwart“. Tatsächlich ist die Ausstellung hier am passenden Ort. Nicht nur, weil es den Machern darum geht, die Künstlerin einem möglichst jungen Publikum zu vergegenwärtigen. Ihre, so der Maler Max Slevogt, „schönen und seltsamen“ Zeichnungen wirken erstaunlich zeitgenössisch. Lasker-Schülers Theben erinnert an die artifiziellen, exotischen Welten in Ulrike Ottingers frühen Filmen; ihre androgynen Prinzen und Häuptlinge sind Prototypen der Großstadtindianer, die die „Neuen Wilden“ der 1980er durch Berlins Straßen ziehen ließen.

Was die Bilder vielleicht noch gegenwärtiger macht, ist ihr performativer Charakter. Beständig kreist Lasker-Schülers zeichnerisches Werk um ihr Alter Ego, das sich auch als Prinzessin Tino von Bagdad manifestieren kann. In der Rolle des Jussuf korrespondiert sie mit Franz Marc, der dem Prinzen ein standesgemäßes Pferd malt: „Meine Leute stürmen in den Palast – mein neues Kriegspferd zu sehen – herrlich! Kaiserlich!“, bedankt sie sich. In ihren Lesungen sind wiederum lautmalerische, pseudohebräische Passagen zu hören, die „Ursprache aus der Zeit der Wildjuden“. Für ein nie realisiertes Varieté-Projekt lässt sie sich als „Fakir von Theben“ ablichten.

Diese Fotografie steht großformatig aufgezogen am Anfang der Ausstellung, daneben die Aufnahme eines altägyptischen Reliefs. Die Ähnlichkeit ist frappierend und das strenge Profil der antiken Figur wird zum durchgehenden Motiv in den Zeichnungen, die ab den 1910er Jahren in Berlin entstehen. Hier lebt Lasker-Schüler, 1869 in Elberfeld als Tochter eines Privatbankiers geboren, seit 1894 mit ihrem ersten Mann – einem Arzt, den sie schnell verlassen wird. Sie beginnt Zeichenunterricht zu nehmen, parallel entstehen die ersten Gedichte. Seit dem Band Meine Wunder (1911) gilt sie als bedeutendste Vertreterin des literarischen Expressionismus. Ihr zweiter Mann, der Verleger und Galerist Herwarth Walden, begründet 1910 eines der einflussreichsten Foren der Avantgarde: die Zeitschrift Der Sturm, in der sie Texte und Zeichnungen veröffentlicht.

Die beiden gehören zu den zentralen Figuren der Berliner Boheme, die sich in den Künstlerlokalen am Kurfürstendamm trifft. Das Ehepaar Walden „mit seinem unglaublich verzogenen Sohn konnte man von mittags bis spät nachts im Café des Westens unter all den wilden Kunstjüngern und Kunstfrauen antreffen“, so die Schauspielerin Tilla Durieux. „Die kleine Familie nährte sich, wie ich vermute, nur von Kaffee.“ Nach der Scheidung von Walden 1912 lebt Lasker-Schüler mit ihrem Sohn tatsächlich in so prekären Verhältnissen, dass Marc für sie eine Auktion mit Arbeiten von Künstlern wie Klee oder Kirchner organisiert.

Lange standen ihre künstlerischen Arbeiten im Schatten der Gedichte. Das sollte sich mit der aktuellen Ausstellung ändern. Auf dunklen Wänden leuchten Lasker-Schülers delikat kolorierte Zeichnungen und Collagen, auf denen sie die eleganten Formen der altägyptischen Kunst mit Expressionismus und Dada verschmilzt. Zugleich gibt es immer wieder Bezüge zur Populärkultur, zu Zirkus und Lunapark. Ihr verspielt-exotisches Theben erscheint dabei wie ein Gegenentwurf zu dem, was Hannah Höch als „Weimarer Bierbauchkulturepoche“ bezeichnete.

Jussufs Reich ist eine Projektionsfläche – ein Refugium ohne materielle Not und dumpfen Nationalismus, wo die unterschiedlichsten „Stämme“ miteinander leben. Schließlich verdankt der Prinz von Theben seinen Namen einer Figur, die als Traumdeuter Joseph und Prophet Yusuf gleichermaßen in Bibel und Koran auftritt. Als der Künstlerin während ihrer dritten Palästinareise von den Schweizer Behörden die Wiedereinreise verwehrt wird, lässt sie sich in Jerusalem nieder. Im realen Orient, im „Grauen der Einsamkeit des Exils“, entstehen nur noch wenige Blätter. Die verscheuchte Dichterin zeigt Else Lasker-Schüler 1942 noch einmal in der Rolle des Jussuf. Nur ein Gefährte steht ihm noch zur Seite – und der einst so stolze Prinz blickt traurig zu Boden.

■ Bis 1. Mai, Hamburger Bahnhof, Berlin, Katalog (Jüdischer Verlag) 29 Euro