nero e dolce von JOACHIM SCHULZ
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Der Laden im Haus der alten Frau Seuse stand seit Jahren leer. Das Fenster war mit Brettern vernagelt und der Dielenboden mit einer dicken Staubschicht bedeckt. „Wart’s ab!“, sagte Raimund: „Von diesem unscheinbaren Kabäuschen wird bald die halbe Stadt sprechen!“

Er hatte von einem Trödler eine alte Aluminiumtheke nebst Bistromobiliar und Kaffeemaschine gemietet („Auf Leasingbasis – absolut völlig risikolos!“) und wollte eine Espressobar eröffnen. „Hier“, sagte er, „werden bald Menschen in schlichter, aber geschmackvoller Kleidung Kaffee trinken und dabei über die Prager Jazzszene sprechen oder einfach nur ihren Freunden zuwinken, die in Cabrios vorüberfahren.“

Was er mir ausmalte, erinnerte auffallend an italienische Filme der frühen Sechzigerjahre, und so fand ich es direkt erstaunlich, dass er sein Lokal nicht „Marcellos“ oder „Fontana di Trevi“, sondern einfach „Caffè Bar Nero e Dolce“ nannte.

Knapp einen Monat später fand die Eröffnungsparty statt, und tags darauf wartete ich mit ihm auf die ersten Gäste. Ich trug extra für ihn meinen schwarzen Für-alle-Fälle-Anzug, lehnte lässig am Alutresen und trank einen glühend heißen Caffè macchiato.

Nach einer halben Stunde schlurften zwei Studenten herein und fragten, ob es auch Coffee to go gebe. „Coffee …“, stammelte Raimund, und einer der Studenten vollendete: „… to go, ja – so im Pappbecher und mit Deckel.“ Das war der maximale Frevel. „Jungs“, fauchte Raimund, „hier gibt’s Caffè, keinen Coffee, er wird in Tassen serviert und im Sitzen oder Stehen getrunken – aber herumgelaufen wird damit nicht, capito?!“ Ich fand, das war kein gutes Omen.

Auch die Erlebnisse anderer Freunde, die Raimund im „Nero e Dolce“ besuchten, waren wenig erfreulich. Theo erzählte von zwei älteren Damen, die fürchterlich schimpften, als sie erfuhren, dass man zum Cappuccino weder Sacher- noch Marzipantorte bekommen konnte, und Luis berichtete von einem traurigen Hünen, der in Windeseile ein Dutzend Grappas in sich hineinschüttete, dann auf der Toilette einschlief und nur mit Hilfe eines Schlüsseldienstes sowie einiger Passanten befreit und in ein Taxi gestopft werden konnte.

Trotzdem schien sich alles zum Guten zu wenden. Als ich die Bar das nächste Mal betrat, verließen gerade zwei junge Männer das Lokal, die aussahen, als ob sie einem Antonioni-Film entsprungen wären. „Na bitte!“, strahlte ich: „Da sind ja die Gäste, die du dir so wünschst!“ Raimund aber starrte mich entsetzt an. „Du bist wohl nicht ganz bei Trost!“, japste er. „Hä?“, machte ich. „Weil das“, flüsterte er, „keine Gäste waren, sondern die Mafia!“ – „Die Mafia?“, staunte ich: „Haben die beiden dir einen toten Fisch auf die Theke gelegt, oder was?“ – „Natürlich nicht!“, erwiderte Raimund: „Sie haben Espresso getrunken und ein betont harmloses Gespräch geführt. Aber das war nur Tarnung, jede Wette! Wenn sie das nächste Mal kommen, sagen sie: ‚Glaub uns, amico, du brauchste Schutz: Zehntausend, und wir sinde im Geschäft!“ – „Ach, Raimund, du spinnst doch!“, grinste ich, doch er war schon auf dem Weg in den Keller und kam mit ein paar Brettern zurück, um das Fenster wieder zuzunageln.