: Das kann man doch prima weghören
Die Lyrik boomt gerade, doch hat dieser Boom einen Haken: Im Radio werden Gedichte vor allem als geistvolle Texte vorgetragen. Leider
Wieso liegt am Anfang des 21. Jahrhunderts von allen literarischen Gattungen ausgerechnet die Lyrik im Trend? Warum nicht – angesichts von Kriegen, Amokläufen und abgefilmten Hinrichtungen – das Drama? Der Roman feiert weiterhin Erfolge, auch die lang geschmähte und vergessene kleine Prosa wird plötzlich wieder wahrgenommen, sei es, dass Botho Strauß neuerdings mit Kalendergeschichten Erfolg hat, sei es, dass die Glossen und Kurzgeschichten der ZIA-Literaturpiraten Holm Friebe, Jörn Morisse und Kathrin Passig begeistert gefeiert werden. Doch stärker noch als alle diese rücken seit zwei, drei Jahren die Lyriker ins Rampenlicht. Nico Bleutge oder Uljana Wolf werden bereits nach einem Lyrikband an die Seite von Brinkmann, Bachmann und Born gestellt, der feine Poesieverlag kookbooks wird mit Preisen überschüttet, und über Leute, die sich mit heiligem Ernst Dichter nennen, wird nicht mehr gelacht.
Folgerichtig hat der Deutschlandfunk, einer der sensibelsten Seismografen für kulturelle Moden, auf den Trend reagiert. Er bringt seit etwa einem Jahr mehrmals am Tag ein Gedicht zwischen den Sendungen; ein- und ausgeleitet von einer kurzen Streichersequenz tragen Sprecher Lyrik von Goethe, Rilke oder Mayröcker vor. Diese kleinen, wenige Sekunden dauernden Geisteshäppchen werden, so scheint es, recht zufällig ins Programm eingebettet und finden sich zwischen Landwirtschaftssendungen und Musikrezensionen wieder. Bestenfalls versteht man das Gedicht als Kommentar. Dann hört man Jandls ironische Brechung des Besserwissersprechens nach einer leidenschaftslosen, aber lauten Diskussionsrunde, hört nach den Mitteilungen aus dem religiösen Leben von menschlichen Zweifeln und nach den neuesten Terrormeldungen von Liebe. Manchmal allerdings muten diese lyrischen Einblendungen auch antiquiert an, wie ein letztes Aufbäumen eines bildungsbürgerlichen Gespenstes, das der Infotainment-Gesellschaft literarische Tradition und essenzielle Werte entgegenhalten will.
Betrachtet man den Lyrikkalender für das Jahr 2007, den der Kritiker Michael Braun für den Deutschlandfunk herausgegeben hat, wird klarer, woran es beim täglichen Lyrikhappen im Radio letztendlich hakt. Braun nämlich hat für das jeweilige Tagesgedicht auf der Rückseite eines jeden Kalenderblattes eine kurze Erklärung des Textes verfasst, die mit einigen biografischen Auskünften zum Autor aufwartet. Doch reichen die wenigen Zeilen beileibe nicht hin, um eine Interpretation zu liefern, im Gegenteil, sie verschleiern sogar manchmal ein bisschen den Text, verkleinern ihn zur Selbstauskunft des Autors oder ordnen seine Aussage allzu eindeutig einem historischen Datum zu. Von der auch schon oft arg verkürzten Interpretation in der „Frankfurter Anthologie“ der FAZ ist das weit entfernt.
Genau darin aber spiegelt sich das Problem, das die Gedichte, ganz kommentarlos im Radio vorgetragen, erst recht haben. Sie klingen wie ein geistvoller Text, werden wie geistvolle Texte vorgetragen und genügen bereits damit dem Publikum. Es geht weniger darum, welches Gedicht vorgetragen wird – und noch weniger um die Art des Vortrags –, es geht nur darum, dass sie vorgetragen werden. Ein allzu intelligentes, Aufmerksamkeit einklagendes Werk stört da eher, während das Leichte reüssiert. Doch der Deutschlandfunk wählt selten das Leichte, er nimmt sich auch der komplexeren Texte an – was ja einerseits auch gut ist. Andererseits ist so nicht zu erwarten, dass diese Sendungen Werbung für Reinig, van Hoddis, Gryphius, Huch oder Droste-Hülshoff machen und deren Entdeckung oder Wiederentdeckung befördern.
Dem Publikum vorgeführt wird allein die Aura des Geistigen, ohne den Raum drumherum, der zur Entfaltung nötig ist; man kann die Gedichte, im wahrsten Sinne des Wortes, gut weghören. Der Sound zumindest ist prima. Und genau das macht auch die neueste und allerneueste Lyrik so attraktiv, die das Spielen mit einem lyrischen Sound ziemlich gut drauf hat. Für den Bildungshuber ist das genau richtig. JÖRG SUNDERMEIER
Michael Braun: „Der Deutschlandfunk-Lyrik-Kalender 2007“. Verlag das Wunderhorn, Heidelberg 2006, 736 Seiten, 19,90 €