Wer stört, wird untergebracht

SEELE Die Grünen in Bayern wollen Zwangseinweisungen in die Psychiatrie erschweren. Das bisherige Gesetz sei längst veraltet

„Das jetzige Gesetz atmet den Geist der 50er Jahre“

ROLF MARSCHNER, ANWALT

AUS MÜNCHEN LISA SCHNELL

Sabine Müller* verriegelte sich im Bad. Sie hatte Angst vor ihrem Partner. Er hörte Stimmen, die nicht da waren, sah Dinge, die nur er sehen konnte. Sie wusste nicht, warum er plötzlich die Wohnung unter Wasser setzte. Sie rief die Polizei. Die schnallten ihren Partner auf eine Bahre und brachten ihn in die Psychiatrie. Er war nur im Morgenmantel. „Er geniert sich heute noch zu Tode“, sagt Müller.

Festgezurrt auf einer Bahre, so kommen viele in Bayern in die Psychiatrie. Über 60.000 Menschen wurden 2011 im Freistaat gegen ihren Willen eingewiesen, mehr als doppelt so viele wie in Baden-Württemberg. Um Zwangseinweisungen zu vermeiden fordern Experten seit langem ein Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (PsychKHG), wie es außer Bayern fast alle Bundesländer haben. Diesen Freitag stellen die Grünen einen ersten Gesetzentwurf vor. Bis jetzt gelte in Bayern: „Wer stört, wird untergebracht“, sagt Rechtsanwalt Rolf Marschner, der den Gesetzentwurf erarbeitet hat. Das jetzige Gesetz atme den Geist der 50er. In seinem Entwurf stehe „die Hilfe für psychisch Kranke“ im Vordergrund.

„Ziel ist es, die Zahl der Zwangseinweisungen in psychiatrische Einrichtungen deutlich zu reduzieren“, sagt Kerstin Celina, sozialpolitische Sprecherin der bayerischen Grünen. Oft sei eine Einweisung medizinisch gar nicht notwendig, so Heiner Dehner, Psychiatriekoordinator der Stadt Nürnberg. „Es gibt aber meist keine Alternative“, sagt er. So wie bei Müllers Partner. Er lebt in einer Großstadt, doch einen Krisendienst gibt es bei ihm nicht. Nur in München und Nürnberg gibt es Krisenteams, die auch nachts und am Wochenende ihre Hilfe anbieten.

Die Grünen sehen in ihrem Gesetzentwurf deshalb eine „flächendeckende Versorgung mit Sozialpsychiatrischen Diensten sowie Krisendiensten“ vor. Auch wenn die Polizei gerufen wird, soll immer ein Krisenteam mit dabei sein. Dehner hat in Nürnberg die Erfahrung gemacht, dass in acht von zehn Fällen so eine andere Lösung als die Zwangseinweisung gefunden werden konnte. Ist diese aber doch notwendig, wollen die Grünen sie auf maximal sechs Wochen begrenzen.

In Bayern gibt es keine präzisen gesetzlichen Regelungen, wann Zwangsmaßnahmen angewendet werden dürfen. Erst im Februar soll in einer Taufkirchner Klinik ein Patient 60 Tage lang ans Bett gefesselt worden sein. „Für solch gravierende Eingriffe in die Menschenwürde fordert das Bundesverfassungsgericht präzise Regelungen“, sagt Anwalt Marschner. Das leiste der Gesetzentwurf der Grünen. Außerdem sollen alle Zwangsmaßnahmen dokumentiert und eine unabhängige Beschwerdestelle eingerichtet werden. Eine Besuchskommission soll die Krankenhäuser nun nicht alle zwei Jahre sondern jedes Jahr kontrollieren.

Die mit dem Gesetz verbundenen Kosten trage der Freistaat Bayern, heißt es im Gesetzentwurf. Eine Berechnung des Ministeriums soll ergeben haben, dass allein der Ausbau der Krisendienste 40 Millionen Euro pro Jahr kosten würde. „Die Regierung muss aber auch beachten, dass viel Geld frei wird, wenn weniger Leute stationär behandelt werden“, sagt Grünen-Politikerin Celina. Außerdem bestehe durch die UN-Behindertenkonvention ein Rechtsanspruch auf diese Hilfen, so Anwalt Marschner. Gesundheitsministerin Melanie Huml kündigte an, im Herbst selbst einen Gesetzentwurf zu präsentieren. Noch im März hatte ihr Ministerium erklärt, es gebe „keinen zwingenden Handlungsbedarf“ für eine Erweiterung der Hilfesysteme. *Name geändert