Duchamp in Berlin

In der Nacht von Donnerstag zu Freitag um null Uhr ereignete sich nun also das Marien-, Pardon, Marcel-Wunder. Eine herrlich alberne Prozession von Gläubigen hatte sich zu Mies van der Rohes Kunsttempel, der Neuen Nationalgalerie, aufgemacht, die lange angekündigte Reliquie zu bestaunen: ein Fläschchen Eau de Toilette beziehungsweise „Eau de Voilette“, das sich in Yves Saint Laurents Nachlass fand, als der 2009 von Christie’s versteigert wurde. Der unbekannte Sammler, der bei 7,9 Millionen Euro den Zuschlag für den kleinen Gegenstand der Heiligenverehrung erhalten hatte, gibt ihn nun für parfumflüchtige 72 Stunden nach Berlin. Morgen wird er wieder eingepackt.

Aber noch ruht das einzige erhaltene „assisted“, also modifizierte Readymade des hl. Marcel Duchamp (1887–1968) in einer gläsernen Vitrine, die – darunter geht es nicht – in Größe und Form exakt der der Nofretete auf der Museumsinsel entspricht. Zu erkennen ist ein weißlicher Flakon im moderaten Art-déco-Design, dessen ursprüngliches Etikett von Künstler ausgetauscht wurde. Nun prangt die Fotografie von Man Ray, die Marcel Duchamp als „Rrose Sélavy“ zeigt, über dem Schriftzug „Belle Haleine – Eau de Voilette – RS – New York – Paris“. Die mit „Un air embaumé“ etikettierte Verpackung der Firma Rigaud ließ er unberührt bis auf seine Unterschrift Rrose Sélavy und das Datum 1921. Viel machen weder der Flakon noch seine Schachtel her.

Aber das Geschenk Marcel Duchamps an seine Freundin Yvonne Crotti handelt auch nicht von ästhetischer, gestalterischer, sondern von intellektueller Macht. Es geht um die immateriellen Anteile der Kunst, um den konzeptuellen Entwurf und um die Rezeption. Doch dieses Kapitel der Kunstgeschichte ist nun auch schon weidlich durchgekaut. Also gerieten Udo Kittelmann, dem Direktor der Nationalgalerie, seine Ausführungen auch nicht zur launigen Eröffnungsrede, sondern zur drögen Sonntagspredigt. Ihr gerinnt das vorbildliche Heiligenleben natürlich immer nur zum Ruhme Gottes beziehungsweise der Kunst, vor allem aber Roms, also der Institution Kirche beziehungsweise Museum. Aber so gesehen. Wären hier nicht 7,9 Millionen, gänzlich unverpackt, bar auf den Tisch oder in die Vitrine, erst die Erscheinung, die ein 72-Stunden-Wallfahrtspektakel lohnten? WBG