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Archiv-Artikel

Tanz den Gemeindepfarrer

Wüten gegen Posen, engen Spielraum und die Selbstfindung: Die 16. Tanztage starten in den Sophiensælen mit Stücken von Friederike Plafki, Litó Walkey und Jeremy Wade

Den Mund weit aufgerissen, daran erkennt man die Tänzer von Jeremy Wade: Sie erinnern an junge Vögel im Nest, deren ganzer Körper unter dem aufgeklappten Schnabel gieriger Schlund zu werden scheint, zitternd vor Erregung. Wades Tänzer zucken und staksen, kriechen und marschieren, in einer merkwürdigen Verwischung von Expressivität und Infantilität. Wade ist so etwas wie ein Karikaturist unter den Choreografen. Er überzeichnet das Tier- und Triebhafte des Körpers und wirft darin einen wütenden Blick auf Selbstdarstellungposen und die Masken des Originellen.

Bevor er zum Choreografen wurde, hat sich der junge Amerikaner ausgiebig in der Welt der Raves und Clubnächte getummelt. Jetzt blickt er auf die Zeit von Ekstase und Ecstasy als seinem Erfahrungspool zurück. Noch ist seine Handschrift von Katerstimmung geprägt. „Glory“, ein Duett, das er zusammen mit Marysia Stoklosa tanzt, ist sein erstes abendfüllendes Stück, entstanden in New York und dort im September 2006 mit einem Bessie Award ausgezeichnet. Da war Jeremy Wade schon nach Berlin umgezogen – und tritt mit „Glory“ heute bei den 16. Tanztagen Berlin in den Sophiensælen auf.

Wade und vier weiteren Choreografen, die aus aus dem Ausland nach Berlin gekommen sind, widmet die Zeitschrift ballettanz ihre Titelgeschichte im Januar: Weil man hier weniger Nebenjobs braucht als in New York, einfacher Tänzer engagieren kann als in Paris und schneller ein Publikum findet als in San Francisco, bleibt Berlin für sie anziehend. Zumindest an Letzterem sind die Tanztage nicht ganz unschuldig, bringen sie doch regelmäßig erste choreografische Arbeiten und ein neugieriges Publikum zusammen.

Stücke von Friederike Plafki und der Kanaderin Litó Walkey eröffneten die Tanztage. So unterschiedlich ihre Fragen an den Tanz auch sind, in einer Hinsicht gibt es eine Verbindung zwischen ihnen und Wade: Sie alle suchen in der Beschränkung des Materials den Blick schärfer zu stellen.

Friederike Plafki ist schon als Tänzerin in Stücken von Lukas Matthaei, Riki von Falken und Sasha Waltz mit ihren schönen Bewegungen aufgefallen. Ihr Stück „Peer to peer“ für sieben Tänzer ist als Studie über die Entwicklung von Bewegung angelegt, die sich nah an kleine Details heranzoomt. Neonröhren, die auf dem Boden liegen, markieren das Spielfeld: Wer es betritt, unterliegt den Regeln, die anderen zu beobachten, sich an ihren Duktus anzupassen und ihr Material zu variieren. Anfangs nehmen die sieben nur Punkte im Raum ein, die mit kleinen Verschiebungen der Schultern, Wendungen des Kopfes und kurzen Armgesten allmählich ausgedehnt werden. Man sieht, wie der Spielraum wächst, wie aus dem kurvenreichen Weg, den zunächst die Fingerspitzen um den Körper beschreiben, Drehungen, Sprünge werden und aus der Weitergabe der Signale ein Netz von Beziehungen entsteht. „Peer to peer“ buchstabiert das Entstehen von Komplexität langsam aus: Am Ende verlassen die Tänzer das Feld, wie nach einer erledigten Arbeit.

Ein kleineres Spielfeld, drei mal sechs Meter, abgeklebt mit weißem Tape, schneidet Litó Walkey aus dem großen Festsaal der Sophiensæle für „The Missing Dance No.7“. Sie kommt mit einer zweiten Tänzerin und dem Komponisten Boris Hauf, der auch den Sound des Stücks gemacht hat. Ihr dreißigminütiger Tanz, lässig und mit dem ungeschliffenen Geradeaus von Fußgängern aufgeführt, besteht zwar nur aus wenigen Schrittkombinationen, ist dafür aber in einem erstaunlichen Maß mit tanz- und musikhistorischem Kontext aufgeladen – als ginge es um eine alltagsethnologische Rekonstruktion, eine Erinnerung an die Zeit der Hippies, verbrannten Flaggen und zerschlagenen Gitarren, als evangelische Gemeindepfarrer den Gospel und Gymnastiklehrerinnen das Instrumentalstück „Popcorn“ entdeckten. Allerdings wurde Litó Walkey erst in dieser Zeit, 1975, geboren: Vielleicht fällt ihr Stück deshalb so heiter aus.

Vor allem skizziert „The Missing Dance No.7“ den Tanz als gesellschaftliche Form der Kommunikation: Nicht um Ausdruck geht es hier, sondern um die Bildung von Zellen und Gruppen. Der Witz des Stücks beruht nicht zuletzt darauf, die Kollektivwerdung mit nur drei Leuten vorzuführen – community en miniature. Darin liegt auch eine gehörige Portion Skepsis gegenüber den Versprechungen, im Tanz Identität zu finden. KATRIN BETTINA MÜLLER

Tanztage Berlin, bis 14. 1. in den Sophiensælen, www.tanztage.de. 4.–7. 1.: Junge Choreografen; 5. & 6. 1.: Jeremy Wade u. a.