: Die Revolution macht bumm
JUBILÄUM Vor einem Vierteljahrhundert stieg die erste Loveparade – sie hat das neue Berlin geprägt wie kein anderes Kulturereignis. Zwölf Thesen zum 25. Geburtstag
TEXT ULRICH GUTMAIR FOTOS ERIK-JAN OUWERKERK
Beim ersten Mal waren es nur 150 Tänzer, und es hat genieselt. Beim zweiten Mal waren es zweitausend, kurz vor dem Millennium anderthalb Millionen. Daraus folgt die erste These: Die Loveparade war das irrste Partyereignis der Weltgeschichte. So viele euphorisierte Tänzer hat es vorher nie auf einem Fleck gegeben.
Dr. Motte war DJ in der Turbine Rosenheim in Schöneberg, wo die erste Acid House Party Deutschlands stattfand hatte. Eines Morgens nach dem Feiern kam ihm die Idee: Wir melden eine Demo an! Am Samstag, dem 1. Juli 1989, fand sie statt. Zweite These: Auf eine Schnapsidee wie die Loveparade konnte man nur in Westberlin kommen, der Halbstadt der Hausbesetzer und Genialen Dilletanten.
Motte, Westbam, der blutjunge Kid Paul und Jonzon waren die DJs der ersten Parade. Sie nahmen einen Mix von 90 Minuten auf und kopierten ihn auf drei Kassetten. Auf die Ladeflächen von zwei alten VWs und einem Citroën Ariane montierten sie Generatoren, Anlagen und Boxen. Um halb fünf Uhr nachmittags wurden synchron die Play-Tasten von drei Kassettenrekordern gedrückt. Wäre aus dieser merkwürdigen Tanzdemo je ein Ereignis geworden, das auf der ganzen Welt beachtet wurde, wenn die Bewohner der DDR nicht ein paar Monate später die Regierung gestürzt hätten? Vermutlich nicht. Daraus folgt die dritte These: Ohne den Fall der Mauer wäre die Loveparade eine lustige Fußnote geblieben. Auf der Loveparade wurde jedes Jahr auch die Revolution in der DDR gefeiert. Unter anderem im ehemaligen Panzerdepot des DDR-Wachregiments „Feliks Dzierzynski“, Honeckers Leibwache.
Aus den Kellern ans Licht
Jahrzehntelang wurde in Clubs in New York, Chicago, London exzessiv Party gemacht. Erst zu Disco, dann zu House. Als House Music 1989 in Westberlin auf die Straße ging, kam sie „aus den Kellern der Liebe ans Licht der Welt“, wie es 1991 in der taz hieß. Dr. Motte sah das knapp zwanzig Jahre später genauso: „Wir waren endlich aus unseren Kellern gekommen. Nun konnte uns plötzlich jeder sehen und vor allem hören, und das fühlte sich irre an und sehr besonders.“ These vier klingt banal, ist aber wahr: Die Loveparade war so erfolgreich, weil sie draußen stattfand. Der neue Sound und das Lebensgefühl, das er vermittelte, war kein elitäres Ding mehr. Hier konnte jeder mitmachen.
„Für Frieden, Abrüstung, Freude, Musik als neues Mittel der Verständigung und Eierkuchen für die gerechte Nahrungsmittel-Verteilung“, stand auf dem Antragsbogen für die Demonstration im Sommer 1989. Man könnte meinen, das sei typische Motte-Rhetorik, die sich jedes Jahr aufs Neue wiederholte. Die Loveparade war aber wirklich eine politische Demonstration. Auf den Straßen von Berlin trafen eine freiheitliche Gesinnung, Hedonismus, Spontitum und der sehr deutsche Hang zur Weltverbesserung in seiner romantischen Form zusammen. Fünfte These: Auf der Loveparade tanzten die Kinder von 68 mit der vom autoritären Zwang befreiten DDR-Jugend. Man sollte auch nicht vergessen, dass die ersten Paraden in einer Zeit stattfanden, als der Mob anderswo Pogrome gegen Flüchtlinge organisierte. Und zweitens, dass die Loveparade eine internationale Veranstaltung war.
Auf der Loveparade zeigte man sich als bunte, wabernde Menge lustvoller, freizügiger Individuen. Hier knüpfte man an die sexuelle Libertinage der Zwanziger an. Männer kleideten sich wie Frauen. Frauen zeigten ihre Brüste. Viele waren in Outfits unterwegs, die man bis dahin nur aus Sexclubs kannte. Schwule Kultur wurde Mainstream, heterosexuelle Jungs traten in Federboas und mit nackten Beinen zum Raven an. Sechste These: Die Loveparade signalisierte den Anfang vom Ende der Heteronormativität. Die House Nation war so queer, dass Zahnspangen so stolz getragen wurden, als seien sie der letzte Schrei.
Flugzeuge gechartert
Vor der Loveparade 1992 meldete ADN, die ehemalige DDR-Nachrichtenagentur, dass Busse aus mehr als 30 deutschen Städten, aus London, Paris, Helsinki, Zürich, Wien und Stockholm erwartet wurden. Aus Frankfurt am Main machte sich einen Sonderzug mit 700 House-Fans nach Berlin auf. In den USA wurden mehrere Flugzeuge nach Berlin gechartert. „The Spirit Makes You Move“ war das passende touristische Motto dieser Parade. Siebte These: Die Loveparade war der Startschuss für den neuen Berlintourismus. Von der Maschine, die damals in Gang gesetzt wurde, lebt Berlin noch heute, auch wenn so manche Partytouristen von der Loveparade nichts mehr wissen, weil sie 1989 noch gar nicht geboren waren.
Bis zum Fall der Mauer und bis zur Loveparade verband man Berlin mit Hitler, Fackelzügen, den Olympischen Spielen von 1936 und dem Ornament der Masse, wie es von Leni Riefenstahl verherrlicht wurde. Vielleicht dachte man auch an die biederen Pfadfinderaufmärsche der FDJ. Anstelle von uniformierten Kolonnen sah man jetzt aber – live auf MTV – Hunderttausende durch Berlin tanzen, in Parks und an Straßenecken herumlungern, sich mit Wasserpistolen bespritzen, sich anfassen und herzen. Achte These: Die Loveparade war eine Massenekstase, die der Welt ein neues, friedliches und gut gelauntes Berlin präsentierte.
Das ging so lange gut, bis das freie Fließen der Körper, Säfte und Energien von glatzköpfigen preußischen Bierheteros mit Stock im Arsch blockiert wurde. Manche der Typen, die da Ende der Neunziger plötzlich mitmarschierten, hätte man sich auch auf den Panzern sitzend vorstellen können, die 1941 in Richtung Russland rollten. Neunte These: Die Loveparade war das jährlich wiederkehrende Ritual, in dem sich die Berliner Republik konstituierte. Im Guten wie im Schlechten.
Teilnehmer gedopt
Auf der Loveparade wurden Drogen genommen, vor allem Ecstasy, aber auch Speed, Nikotin, Alkohol, Haschisch etc. Die Boulevardpresse und manche konservative Politiker begannen wegen Ecstasy einen parteiübergreifenden Feldzug gegen House, Techno und die Parade. Szeneorgane reagierten auf die Drogenhysterie mit lustigen Überschriften wie: „Loveparade ungültig! Teilnehmer gedopt!“
1995 etablierte sich die Loveparade als Großereignis, das weit über die Szene hinausstrahlte. Im selben Jahr wurden im ländlichen, von Kurt Beck regierten Rheinland-Pfalz an vielen Orten ganze Hundertschaften von Polizisten gegen brave Raver und ihre Clubs eingesetzt. Der Bundesgrenzschutz wurde zu Hilfe gerufen. In einer Wochen dauernden Aktion gegen den Club Palazzo in Bingen etwa wurden insgesamt 5.500 Raver einer Leibesvisitation unterzogen. Dabei entdeckte man bloß Kleinstmengen für den Eigenbedarf. Ein einziger Ecstasydealer wurde erwischt. Ziemlich viel Repression gegen eine friedliche, sozial und politisch nicht auffällige Jugendkultur. Zehnte These: Nur auf der Loveparade war Provinzdeutschland wirklich frei.
William Röttger, Strippenzieher beim Berliner Technolabel Low Spirit und an der Loveparade GmbH beteiligt, prahlte: „Nachdem Techno jahrelang eine Szeneangelegenheit war, kann man damit jetzt richtig Geld verdienen.“ So war es. Die Musik wurde immer schlechter, aber umso chartskompatibler. 1996 war Techno so kaputt, dass sich ein neuer Underground dagegen formierte, Minimal Techno, Gabber, Drum & Bass.
Jahre zuvor hatte Harald Fricke in der taz geschrieben: „Mit Techno kann man mittlerweile Rucksäcke für Vorschulkinder verkaufen, ein Zeichen gegen das Waldsterben setzen oder eine Familie gründen. Der vermeintlich böse Klang hat gewaltig an Hartnäckigkeit eingebüßt, seit die Euphorie der ravenden Acid-Hardliner im allgemeinen Partywesen aufgehoben wurde.“ Elfte These: Die Loveparade ist das Symbol für die am schnellsten kommerzialisierte Jugendbewegung in Deutschland. Seitdem hat es keine gegeben, die solche Massenwirksamkeit erreicht hätte.
Die Loveparade hat, ohne das zu beabsichtigen und gegen den Willen vieler, das Image Berlins und Deutschlands nachhaltig verändert, auch wenn man womöglich inzwischen leicht peinlich berührt auf sie zurückblickt. Aber so ist das nun mal: Wenn sich das Utopische als Überschreitung der Alltagsnormen, im gemeinsamen Durchdrehen manifestiert, kann man entweder cool Haltung bewahren – oder dabei sein. Dabei zu sein ist meist die bessere Entscheidung.
Wer heute an einem Samstagabend auf der Schlesischen Straße spazieren geht, kann sich vorstellen, was die Loveparade kaputt gemacht hat, lange vor ihrem traurigen Ende in Duisburg. Wer aber am Sonntagnachmittag im Berghain tanzen geht oder zusammen mit anderen glücklich Erschöpften unter den Essigbäumen im About Blank herumlungert, bekommt eine Ahnung davon, was es bedeutet hat, Massenekstase auf der Straße zu organisieren. Zwölfte und letzte These: Der utopische Spirit der Loveparade lebt in Berlin genauso weiter wie der Partytourismus. Auch wenn es keiner merkt, weil all das, was sie ausgezeichnet hat, mehr oder weniger selbstverständlich geworden ist.