: „Ich habe Angst vor Ärzten“
INTERVIEW ANNIKA JOERES
taz: Herr Sawicki, Sie sind einer der größten Kritiker des Gesundheitssystems. Gehen Sie noch zum Arzt?
Sawicki: Ich war vor kurzem beim Zahnarzt, das ließ sich nicht mehr vermeiden. Ansonsten habe ich große Angst vor allen Ärzten.
Warum?
Weil ich als Patient nicht weiß, was passiert. Ich bin schutzlos ausgeliefert. Wenn ich beim Schuhe kaufen falsch beraten werde, ist das egal. Den Stiefel tausch‘ ich um. Wenn mich der Arzt aber falsch behandelt, steht viel auf dem Spiel. Das Zutrauen habe ich verloren.
Wieso können Patientinnen und Patienten so wenig vertrauen? Klären Ärztinnen und Ärzte zu wenig auf?
Das ist ja ganz komplex. Die Menschen wollen glauben, sie gehen mit riesigen Hoffnungen zu ihrem Arzt. Hoffnung – und Glaube. Die Medizin ist eine Art Religionsersatz geworden. Und die Deutschen wollen Medikamente: Sie sind unzufrieden, wenn ihnen der Arzt nichts verschreibt. Sie warten auf die magische Pille. In Holland würde sich ein Patient sofort beschweren, dass dem Arzt nicht besseres einfällt als Pillen.
Also sind die Patienten schuld?
Von Schuld kann man sowieso nicht sprechen. Aber die meisten Patienten wollen auch informiert werden. Dreiviertel von ihnen beschwert sich über mangelhafte Information. Die Ärzte haben keine Zeit dazu. Im Durchschnitt können sie sich sieben Minuten pro Patient nehmen. Sieben Minuten – dann wäre unser Gespräch jetzt schon vorbei. Die Wartezimmer sind einfach zu voll, da wird der Patient zum Feind. Das erzeugt eine schnelle Diagnose, einen schnellen Griff zum Rezeptblock und vor allem eine enorme Unzufriedenheit der Ärzte und der Patienten.
Fehlt es an Ärzten?
Nein, Deutschland hat 3,2 niedergelassene Ärzte pro tausend Einwohner, das ist über dem Durchschnitt. Wir haben genug Ärzte, nur sie beschäftigen sich mit anderen Dingen als mit der Heilung. Sie haben im Gegensatz zu anderen Ländern keine Praxismanager eingestellt, die sich um die bürokratischen Aufgaben, um Anträge, Bescheinigungen kümmern. Praxismanager können den lästigen Schreibkram abnehmen. Aber das größte Problem ist die wahnsinnige Menge an Patienten-Kontakten. Wir gehen viel zu häufig zum Arzt.
Vielleicht schrecken Ärzte vor einer Aufklärung zurück? Sie könnten dadurch ihren Halbgott-Status verlieren.
Im Gegenteil. Der Arzt kann sehr viel mehr mit einem informierten Patienten besprechen. Natürlich geht das nicht immer, zum Beispiel mit einer dementen 90-jährigen Frau im Pflegeheim. Aber in vielen Fällen geht das. Diese Generation der Ärzte, die immer nur außerhalb des Patientenzimmers über die Diagnose reden will, die stirbt aus. Wichtig ist natürlich auch, die Art und Weise der Information: ‚Sie haben da ein Karzinom, in etwa sechs Monaten sterben sie‘ – Oder, wie früher: ‚Sie haben da einen Schatten auf der Lunge, mit ein bisschen Bestrahlung geht es ihnen bald wieder besser‘. Diese Zeiten sind vorbei.
Sie waren Chefarzt an einer Kölner Uni-Klinik. Haben Sie Ihre Patienten gut informiert?
Ich habe es versucht, schon in den 1980er Jahren. Ich wollte den Patienten beibringen, wie sie sich selber behandeln, zum Beispiel bei Diabetes, Bluthochdruck oder Asthma. Das ist sehr erfolgreich. Sie werden selber zu Ärzten für ihre spezielle Erkrankung und können das täglich praktizieren. Aber es gab massive Widerstände.
Von wem kamen die?
Von allen Seiten. Die Ärzte haben zuerst befürchtet, dass die Patienten sich schaden, weil sie kein Medizinstudium haben. Das ist Unsinn, bei einer entsprechenden Schulung ist die Therapie des Patienten sehr gut. Er muss nur an die Informationen kommen.
Gibt es denn überhaupt genügend Informationen, genügend Studien zum Beispiel über Medikamente?
Es gibt nie genug Studien, niemals. In Deutschland ist mehr als jeder dritte von Bluthochdruck betroffen. Wir wissen aber immer noch nicht, was die beste Behandlung ist bei den Unter-50-Jährigen mit Bluthochdruck oder den über-70-Jährigen. Wir wissen nicht, wie es bei Frauen ist. Bei solchen Studien werden immer mittelalte Männer untersucht. Frauen sind nicht einfach leichtere Männer ohne Y-Chromosom. Auf dieser unzureichenden Studienlage müssen Ärzte entscheiden. Wir werden aber immer unzufrieden sein: Wissen wir etwas über Frauen, wissen wir noch immer nichts über Frauen türkischer Herkunft. Aber diese Unwissenheit liegt auf einem immer höheren Niveau.
Also müssen wir mehr oder auch anders forschen?
Beides. Das genau ist ja die Aufgabe unseres Institutes: Wir werten die vorhandenen Studien aus. Da beginnt das Problem: Nicht alle Studien der Pharmaindustrie sind öffentlich zugänglich.
Wie viele werden verschwiegen? Die Hälfte?
Die Hälfte vielleicht nicht. Aber es gibt Studien, zum Beispiele bei der Bewertung von Insulinanaloga [Medikament zur Behandlung von Diabetes, Anm.d.Red.], die abgeschlossen, aber nicht zugänglich sind. Das halte ich für unethisch. Allein für die Patienten: Sie nehmen an Studien teil, um Ergebnisse zu ermöglichen, nicht um Werbung für die Pharmaindustrie zu machen.
Wie können die Studien verbessert werden?
Es darf nicht nur überprüft werden, ob ein Medikament schädlich ist. Es muss auch geprüft werden, ob es nützt. So wie es jetzt läuft, ist es auf jeden Fall schädlich: Denn selbst wenn ein Produkt wirkt, sind Ärzte misstrauisch gegenüber den Studien der Pharmaindustrie. Deswegen werden sogar wirksame Medikamente nicht verschrieben. Ich plädiere dafür, dass Großbritannien, Frankreich und Deutschland die Studien zusammen staatlich verantworten, genauso bei Operationen oder neuen diagnostischen Verfahren. Das kostet etwa 50 Millionen Euro im Jahr – eine kleine Summe, die durch eingesparte Medikamente sofort wieder drin wäre.
Klingt logisch ihr Konzept – wird es jemals durchkommen?
Die Engländer und Franzosen waren sehr interessiert. Auch wenn französische Pharmaindustrielle bei einer Veranstaltung im Senat aufgesprungen sind und gerufen haben „Je suis blessé!“ Die Pharmafirmen gehen mit ihren Medikamenten um wie mit ihren Kindern, sie haben nahezu eine Liebesbeziehung zu ihnen: Sie haben sie entwickelt, modifiziert, sie haben Rückschläge erlebt, auf eine Zulassung gehofft. Sie können es nicht objektiv beurteilen. Genau so wenig können Eltern das Zeugnis ihrer Kinder schreiben.
Wie reagiert die Pharmalobby auf ihre Forschungen? Kriegen Sie böse Briefe?
Nein, das läuft alles subtiler. Der Chef von Sanofi-Aventis [der weltweit drittgrößte Pharmaproduzent aus Frankfurt, Anm. d. Red.] hat mich zu seinem Unternehmen eingeladen. Ich habe einen ganzen Tag lang kein Labor zu Gesicht bekommen – dafür hielt er vor jedem Gebäude und sagte: ‚Hier arbeiten zweitausend Menschen mit Familie, hier ist ein langjähriger Mitarbeiter mit drei Kindern, hier sind unsere jüngsten Auszubildenden...‘ Der Druck auf mich und auf das Parlament läuft über die Arbeitsplätze – wie immer.
Wie ist das für Sie, mit so einer starken Lobby konfrontiert zu sein?
Ich nehme das sehr ernst. Aber ich kann nicht bei der Wirksamkeit von Medikamenten auch noch die daran hängenden Jobs berücksichtigen. Warum müssen Menschen Medikamente schlucken, damit andere nicht entlassen werden? Da kann man ihnen auch direkt das Geld geben. Oder soll ich den Pharma-Manager mit zum Friedhof nehmen, zu den Toten, die durch seine Versäumnisse entstanden sind? Aber auch die Medien sind große Lobbyisten für die Pharmaindustrie: Sie wollen Nachrichten produzieren und schreiben dann schnell: Neues Wundermittel gegen Krebs oder Durchbruch bei der Rheumatherapie. Das spielt mit der Hoffnung von PatientInnen. Eine Frau mit Brustkrebs wird sich auf diese Nachricht stürzen, kriegt neue Hoffnung.
Sie klingen, als ob es überhaupt keinen medizinischen Fortschritt gebe.
Natürlich haben wir einen Fortschritt, aber er ist viel kleiner, als die Pharmaindustrie ihn braucht. Pro Jahr werden weltweit nur 20 neue Wirkstoffe zugelassen, davon sind vielleicht 12 wirklich vielversprechend. Auch die Patienten wollen an Innovationen glauben. Selbst wenn das Krebsmedikament nicht wirkt – eine Zeit lang haben sie wenigstens daran geglaubt. Es wird hier die Hoffnung verkauft, der Glaube.
Sie zerstören diese Hoffnungen. Macht der Job Spaß?
Natürlich habe ich gründlich überlegt, ob ich für dieses Institut meinen Job als Chefarzt aufgebe. Keine leichte Entscheidung – es gibt in Deutschland keinen besseren Posten. Ein Chefarzt verdient sehr gut und kann seine Arbeit weitgehend selbst bestimmen. Aber mir war es wichtig, die Solidargemeinschaft zu schützen: Jeder muss zu jeder Zeit Hilfe in Anspruch nehmen können. Wenn ich vor einen Baum fahre, darf der Sanitäter nicht zuerst nach meiner Kreditkarte suchen. Gesundheit kann ich mir nicht kaufen wie Schuhe. Sie ist mein Grundrecht.