Denken ist Zielen

In seinem neuem Buch beschreibt Samuel Weber die fatale Irak-Politik der USA als Konsequenz einer 2.500 Jahre alten Auffassung von Rationalität

Schuld ergibt sich aus dem Versuch, das Netz zu einem Werk, das Netzwerk zu einem Volk, Knoten zu großen Männern zu machen

VON INES KAPPERT

Wer Jacques Lacan einmal in seinen Grundzügen verstehen will, der muss Samuel Webers Einführung lesen: „Rückkehr zu Freud: Jacques Lacans Ent-Stellung der Psychoanalyse“. Anders als der Titel vermuten lässt, findet sich hier ein mittlerweile zum Klassiker avancierter Text, der, gut geschrieben und auf Verständlichkeit bedacht, die Sprache und Theorie Lacans entschlüsselt – ohne sie zu banalisieren. Samuel Weber, Professor für Literatur- und Kulturwissenschaften an der Northwestern University in Chicago, gilt zu Recht als brillanter Vermittler. Er kann zwischen einem linkstheoretischen Denken und der Psychoanalyse vermitteln, ebenso wie zwischen Jacques Derrida und Walter Benjamin. Und er schafft es, neue Medientheoretiker mit der kantschen Kritik der Vernunft zusammenzubringen.

Der Brückenschlag, den Weber in seinem jüngst erschienenen Buch unternimmt, ist nicht weniger ambitioniert: In „Gelegenheitsziele. Zur Militarisierung des Denkens“ setzt er die Logik des Tötens in direkten Bezug zur abendländischen Vorstellung von Rationalität. Und zwar indem er die Genealogie von „zielen“ und von „telos“ als einen grundlegend martialischen Akt sowie als Kern der abendländischen Wissensproduktion freilegt, und zwar von Sokrates bis Husserl. „Denken ist ins Schwarze treffen, den Punkt machen; zielen.“ Weber bezieht damit die militärische Logik von Zielen, Treffen, Töten als vorrangige Methode der Selbstbehauptung oder des Selbstschutzes auf die Ideengeschichte des Denkens per se. Damit nicht genug.

Wie stets ist Weber darum bemüht, geisteswissenschaftliche Anstrengungen mit aktuellen Diskussionen und politischen Ereignissen zu vernetzen. So benennt er den US-amerikanischen Begriff des target of opportunity, des Gelegenheitsziels, als wichtigsten Auslöser für seine Studie. Dieser machte während des zweiten Golfkrieges eine traurige Karriere und legitimierte den vorschnellen Militärschlag auf ein Wohnhaus in Bagdad, in dem man Saddam Hussein zu Unrecht vermutet hatte. Der Begriff der Gelegenheit nun legt die Kurzfristigkeit des Handelns nahe. Gilt es doch, so Weber weiter, die „Sterblichkeit des Ziels auszubeuten“. Das setzt eine weitere Handlung normativ voraus: Nicht nur muss die Gelegenheit beim Schopfe gepackt, also schnell gehandelt werden, es muss auch im Wirrwarr der Beziehungen und Ereignisse ein Ziel isoliert und ins Visier genommen werden. Was bedeutet, Beziehungsgefüge auf einen Punkt zu reduzieren, um schließlich alle Konzentration auf just diesen zu richten. Denken als Bogenschießen, als prinzipiell dem Töten verpflichtet.

Was nun ist gewonnen mit dieser literaturwissenschaftlich geprägten Reise durch die bis heute gespeicherten Bedeutungsschichten der Vorstellung von rationalem Denken und Handeln? Zunächst einmal wird Gewalttätigkeit nicht als Ergebnis eines bösen oder fehlerhaften Denkens postuliert, sondern als dem rationalen Denken vor jeder (moralischen) Bewertung konstitutiv. Selbstverständlich aber bleibt der alte Poststrukturalist Weber dabei nicht stehen: Sondern er führt durch „ein Flickwerk von Lektüren“ von Carl Schmitt, Freud und schließlich Benjamin ein anderes Denken vor. Wir haben es schon geahnt: ein Denken, das seine Verstrickungen in Gegenläufigkeiten nicht verleugnet und daher in der isolierenden Fokussierung auf ein Zentrum oder Ursprung keinen Sinn sieht. Stattdessen geht es um Kontextualisierung, die Sichtbarmachung von Zwischenräumen und Mischformen, weshalb Begriffe wie Passage (Benjamin), Spur (Derrida) und Unterbewusstes (Freud, Lacan) als Gleichzeitigkeit von Absenz und Präsenz sowie Netzwerk, Genealogie (Nietzsche, Foucault), Werden und Fluchtlinien (Deleuze/Guattari) etabliert wurden.

Den Vorzug eines solchen nichtmilitarisierten Denkens sieht Weber darin, einer todbringenden Schuldverstrickung zu entgehen: „Schuld ergibt sich aus dem unmöglichen Versuch, den Ort zu klären, zu besetzen und zu sichern, der das Netz zu einem Werk, das Netzwerk zu einem Volk, Knoten zu großen Männern machen würde.“ Mit dieser These schließt Weber seine Demontage des autoritären Denkens ab – und geht in seinem letzten Kapitel zur Hommage an Walter Benjamin als herausragenden Denker des Netzes über.

Wir wären also mittendrin in der (post)strukturalistischen Theorie, die ihren Widersacher in der Metaphysik und der Hermeneutik ausmacht. Aber, die Frage sei wiederholt: Was ist der Erkenntnisgewinn für etwa die gegenwärtige Situation im Irak? Immerhin hat die Studie mit dieser Referenz eingesetzt und sich damit an ein politisch dringliches Problem angedockt.

Wie so oft aber erfahren wir in dieser Denkdisziplin nichts über konkrete gesellschaftliche Zustände und Interessenlagen. Erdölfelder oder Halliburton kommen nicht vor. Das entkleidet den Text noch nicht per se des politischen Ansatzes, sondern markiert erst mal die Differenz zwischen Politik und dem Politischen, zwischen Informations- und Erkenntnisgewinn.

Letzterer ist sehr wohl gegeben. Denn natürlich führt ein zentrumfixiertes Denken auch zur fatalen Ansicht, mit der Tötung von Bin Laden das Problem eines islamischen Fundamentalismus lösen zu können. Insofern kann ein an der Dekonstruktion und Psychoanalyse geschultes Lektüreverfahren der Programmatik von Bush und Cheney durchaus erhellende Aspekte abgewinnen. Den schalen Beigeschmack aber, der entsteht, wenn ein dramatisches Ereignis instrumentalisiert wird, um dem eigenen Beschäftigungsfeld größere Brisanz zu verleihen, vermag das nicht wettzumachen.

Samuel Weber: „Gelegenheitsziele. Zur Militarisierung des Denkens“. Aus dem Englischen von Birgit Pungs. Diaphanes, Zürich 2006, 192 Seiten, 23,90 Euro