Der Zauber im Elend

THEATER Premierendoppel in Bochum: David Bösch inszeniert „Die Ratten“ von Gerhart Hauptmann, Katharina Thalbach „Cyrano de Bergerac“. Beide Inszenierungen loten das poetische Potenzial sozialer Schieflagen aus – mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen

Die Händel, in die Cyrano fechtend verstrickt ist, wirken bloß dekorativ

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Funktioniert das Theater wie eine Kindheit, die man sich in die Hosentasche stecken und bei Bedarf hervorholen kann? Der junge Mann, der diesen Vorschlag auf der Bühne der Kammerspiele in Bochum zu Beginn von Gerhart Hauptmanns Stück „Die Ratten“ macht, wirkt dabei anrührend enthusiastisch. Und ein wenig jugendlich naiv, natürlich. Er soll Theologie studieren, doch viel lebensnäher und menschlicher erscheint ihm die Schauspielkunst. Die Liebe zu Geschichten und die Liebe zu Figuren, das zählt für ihn, der in einer späteren Szene die Intendanten aus Bochums großen Theaterjahren – Zadek, Peymann, Hausmann – Revue passieren lässt, mehr als Tradition und Referenz an das Gewesene.

Das trotzige Beharren auf der Sehnsucht nach Zauber und Verwandlung und nach großer Emotion machte sich das Theater Bochum am Wochenende gleich mit zwei Premieren zu eigen: Mit David Böschs Inszenierung der „Ratten“ in den Kammerspielen und „Cyrano de Bergerac“ in der Regie von Katharina Thalbach im Großen Haus.

Nun fordert die traurige Komödie um „Cyrano de Bergerac“, einen rauflustigen Helden, dessen flinker und in einer Nacht mit hundert Gegnern fertig werdender Degen nur von der Schnelligkeit seiner Zunge und seiner Kunst, Verse zu schmieden, übertroffen wird, einen solch zugleich poetischen und Spektakel machenden Zugriff auch geradezu heraus. Mit Katharina Thalbachs Talent für krachlederne Komik und Armin Rohde in der Rolle des Cyrano, der noch dem hochfliegendsten Wort eine bodenständige Glaubwürdigkeit verleiht, schien da nicht viel schiefgehen zu können. Dass aber Hauptmanns „Ratten“, ein Manifest fast des Naturalismus, der sich den sozial Abgestürzten zuwenden will als Helden einer neuen Zeit, trotz all seiner grausamen Wendungen so funkelnd wie ein dunkles Märchen daherkam, ist dagegen überraschend.

David Bösch, der mit seinen knapp über dreißig Jahren an den großen Schauspielhäusern noch immer als ein junger Regisseur gilt, bleibt nah bei seinen Figuren: bei der Frau des Maurermeisters John, die mit zwielichtigen Methoden um ein Kind und die Liebe ihres Mannes kämpft. Das Glück baumelt ihr wie eine Wurst vor der Nase, aber mit jedem Griff danach zurrt sie das Unglück fester, reißt ein armes polnisches Dienstmädchen und ihren nicht sehr hellen Bruder mit.

Die Blindheit, die sie gegenüber den eigenen Fehlern vortäuscht, die Gemeinheit, mit der sie der leiblichen Mutter ihres gekauften Kindes ähnliches Wünschen nicht zugesteht, spielt Katharina Lindner überzeugend. Bösch lässt sich Zeit, die vielen Wendungen des Dramas, das sich immer tiefer in Richtung Katastrophe schraubt, auszuerzählen – und man bleibt dran, staunend vor dieser Häufung von Morphinisten, Dieben und Mördern, die sich alle an recht bescheidenen Wünschen den Schädel einrennen.

Die Bühne gleicht dabei einem ausgebombten Haus, in dem die Requisiten eines Lumpensammlers, eines ehemals bankrottgegangenen Theaterdirektors, für jene kurz dauernden Illusionen sorgen, wie sie ein Rausch verschafft. Bösch wirft keinen historisch oder sozial analytischen Blick auf den Stoff, er will die Figuren nicht als Produkt der Verhältnisse erklären oder entschuldigen. Theater bleibt bei ihm Theater, ein Stück Literatur und Vergangenheit, das seine Herkunft nicht leugnen will. Nicht um uns die Welt zu erklären, wird es wieder zur Gegenwart gemacht, sondern um die Widersprüche der Empathie zu erfahren.

Grenzen des Theaters

Einen ähnlichen Umgang mit Hauptmanns Dramen aus den sozialen Randlagen, ein ähnliches Bekenntnis zu den Grenzen des Theaters, zeigte zwei Wochen zuvor der Regisseur Michael Thalheimer bei seiner Inszenierung der „Weber“ im Deutschen Theater in Berlin. Auf keine der vielen denkbaren Möglichkeiten, mit der Geschichte eines Aufstands gegen Ausbeutung und Entmündigung an gegenwärtige Debatten und aktuelle Ereignisse anzudocken, ließ er sich ein. Von der ersten Szene an beherrscht eine ungeheure Anspannung jeden Satz und jede Geste, das Schauspielen selbst scheint von der gleichen Zwangsläufigkeit und der Notwendigkeit des Sich-zur-Wehr-Setzens in den Griff genommen wie die Figuren der Weber.

Anfangs denkt man, diese geschwollenen Halsschlagadern, dieses druckvolle Sprechen, diesen pathetischen Gestus nicht lange auszuhalten. Aber dann gelingt das Wunder, dass in diesem eng gesteckten Rahmen ein Stück Theaterliteratur zur Kenntlichkeit befreit wird und sich genau verortet in einem Moment, als politische Utopie noch nicht denkbar ist. Eben keine Perspektive auf irgendwas zu haben macht die Not der Weber so groß und ihren Widerstand zu einem Akt purer Zerstörung.

Zarte Stimulantien

Ganz so heftig und luftabschnürend ist die Engführung von Form und Inhalt bei David Bösch dann doch nicht. Er spielt ein bisschen Friedrich Holländer, „Wenn ich mir was wünschen dürfte“, und streut in die grauen, nassen und kalten Abgründe der 1911 fertig geschriebenen „Ratten“ etwas von dem nostalgischen Glamour, der zum Merkmal der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wurde. Schließlich will er die Leidenschaft, mit der er Hauptmanns Figuren begegnet, mit dem Publikum teilen und nutzt dafür einige zart eingesetzte Stimulantien. Hart und kantig wie ein expressionistischer Holzschnitt sieht Hauptmann bei Thalheimer aus, mehr von impressionistischer Weichheit ist er bei David Bösch.

Man wünschte sich manchmal etwas von Böschs Gespür für Poesie und seinem empfindsamen Zugriff in der Inszenierung des „Cyrano“, die am Tag nach den „Ratten“ in Bochum Premiere hatte. 1897 erschien das von Edmond Rostand geschriebene Theatermärchen über einen barocken Helden. Er, den seine Hässlichkeit zu schüchtern macht, der angebeteten Roxane seine Liebe zu gestehen, leiht seine glühenden Liebesworte einem Nebenbuhler, der zwar hübsch anzusehen, aber maulfaul ist.

In diesem Soufflieren der Liebe wird die Sprache zum Raum, in dem das Begehren einen Tanz so virtuos aufführt, wie es auf keiner anderen Ebene der Begegnung möglich wäre. Wie Liebe aus Gedanken und Projektionen entsteht, wie Sehnen wichtiger ist als Erfüllen und aus Flirten und Bekennen ein großer Reichtum an verspielten erotischen Formen entstehen kann, macht auch heute noch die Attraktivität des Stücks aus. In einer Verfilmung mit Gérard Depardieu wurde es vor zwanzig Jahren wieder bekannt.

Vieles davon darf man dank Armin Rohde, der mit Cyranos Versen völlig unangestrengt und wie mit einem Fingerschnippen umspringt, auch im Bochumer Theater schmecken. Doch die Spannung zwischen der Leichtigkeit seiner Verse und den tiefen Verletzungen in der Seele dessen, der nur Zaungast in dieser Beziehung ist, vertändelt die Inszenierung durch eine etwas populistische Rahmung.

Katharina Thalbach kokettiert mit Formen des TV-Entertainment, lässt Cyranos Konkurrenten über einen Laufsteg auftreten, animiert das Publikum zu klatschen, wie eine Moderatorin es möchte, streut da einen Rapsong der Bäckergesellen ein, dort die Parodie einer Irish-Dance-Show und zerläppert damit die Spannung. Denn das alles ist nicht wahnsinnig genug, um eine tatsächliche Reibungsfläche zwischen der medialen Geschwätzigkeit der Gegenwart mit ihren Sprachfloskeln und der erfindungsreichen, Gefühle stiftenden Sprache von Cyrano de Bergerac aufzubauen. Und es ist nicht durchdacht genug, um Cyranos Rolle als Kritiker des Gesellschaftsgefüges seiner Zeit kenntlich zu machen. Die Händel, in die er fechtend verstrickt ist, sie wirken bloß dekorativ. Welch eigenem Gerechtigkeitssinn er dabei aber folgt, spielt keine große Rolle. Und damit ist das Stück um viele seiner Möglichkeiten gebracht.

Der Bochumer Doppelschlag ist damit gerade da, wo er mit zwei prominenten Namen laut auf die Pauke hauen und für ein gewitztes Vergnügen eintreten wollte, etwas mau und provinziell geraten. Dafür zeigt das Haus entspanntes Theaterspielen gerade dort, wo man eher die Düsternis und die Schwere des Stoffes fürchtete, in Böschs „Ratten“. So war das Premierendoppel doch ein geglücktes Kunststück.