Homo homini lupus

NIHILISMUS Postsozialistische Tristesse als Ausgangspunkt ästhetisierter Gewalt: „Mein Glück“ von Sergei Loznitsa

Loznitsas erzählerischer Wagemut ist bewundernswert, seine politisch-historische Allegorie zu schlicht

VON LUKAS FOERSTER

In der ersten Einstellung wird Zement angerührt; in der zweiten ein Mann über den Boden geschleift; in der dritten wird er in eine Grube geworfen und mit Zement überschüttet; in der vierten schiebt ein Bagger Erde über die einbetonierte Leiche. Sergei Loznitsas „Mein Glück“ ist ein Film, der keine Gefangene macht.

Wer das ist, der da am Anfang beseitigt wird, erfährt man nicht. Eine Leiche mehr oder weniger macht in der Welt, die der Film entwirft, keinen Unterschied. Nach dem radikalen Prolog taucht bald der Protagonist Georgy auf. Zuerst steht er etwas verloren in einer schäbigen Küche herum, dann sitzt er im Lastwagen und fährt durch die russische Provinz. In Gestalt eines alten Mannes steigt die sowjetische Vergangenheit zu und wieder aus. Wenig später macht eine junge Prostituierte dasselbe. Dann landet Georgy in einer Kleinstadt, die wenig Mitleid mit ihm haben wird.

Loznitsa hat sich seit Mitte der neunziger Jahre als Dokumentarfilmer einen Namen gemacht, „Mein Glück“, eine deutsch-ukrainische Koproduktion, ist sein erster Spielfilm. Wenn die Kamera sich immer wieder von Georgy löst und an andere Figuren heftet und deren Lebenswelt erkundet, könnte man das auf den ersten Blick für einen Rückbezug auf seine älteren Filme halten. Sie setzten sich intensiv mit dem Verhältnis von Geschichte und Individuum auseinander. Allerdings haben die präzisen Kameramanöver, mit deren Hilfe der Film die Handlungsstränge wechselt, die Formen der Abschweifung und die ausgestellten Asymmetrien einzelner Einstellungen dann doch nichts Dokumentarisches an sich. Nie geht es da um die Reaktion auf etwas Vorgefundenes, da bleibt stets viel autorenfilmerische Konstruktion sichtbar. Gerade auch in der eindrucksvollsten Sequenz des Films, in der die Kamera über einen Marktplatz schweift, ganz nah an die verhärmten Gesichter der Passanten heranfährt, immer wieder einzelne fokussiert, aber nie einrastet und sich am Ende ihrer exakt kalkulierten Bewegung wieder aus dem Menschenschwarm herausbewegt: Es ist eher ein zynisches, pessimistisches Update der Ballszenen bei Max Ophüls und ihrer Choreografie von Gesellschaft als eine Suchbewegung mit wenigstens teilweise ungewissem Ergebnis.

Der Lastwagenfahrer versucht vergeblich, sich im kunstvoll derangierten Erzählraum, dessen einzelne Elemente sich von Anfang an gegen ihn verschworen zu haben scheinen, zu behaupten. Als er ganz unten, bewusstlos und ausgeraubt am Wegesrand angekommen ist, bricht die ohnehin nie geradlinige Erzählung zusammen. Georgy – wenn er es denn noch ist – trägt plötzlich einen Bart, spricht nicht mehr und scheint sich in eine andere Existenz geflüchtet zu haben, in eine, in der es häuslicher, aber nicht friedlicher zugeht; im Gegenteil: „Mein Glück“ löst sich in der zweiten Hälfte auf in eine Folge immer weniger kontextualisierter Gewaltakte.

Sergei Loznitsa hat einen der finstersten, nihilistischsten Filme der letzten Jahre gedreht, einen Film, der eine Welt beschreibt, der die zivilisatorische Firniss gründlich abhanden gekommen ist. Ziegen stromern durch Wohnungen, Frauen sind ausnahmslos sexuelles Freiwild und knüppeln können Landstreicher genauso gut wie Polizisten. Man kann vieles bewundern an „Mein Glück“: den erzählerischen Wagemut, die bildästhetische Konsequenz, nicht zuletzt auch das Spiel des Hauptdarstellers Victor Nemets, der sehr eindrücklich verschiedene Haltungen der Unschuld in einer zutiefst schuldigen Welt ausprobiert. Fasst man allerdings den Film als politisch-historische Allegorie – und Loznitsa gibt einem genug Anlässe, das zu tun –, bleibt deren Gehalt etwas schlicht: Erstens ist der Mensch im postsozialistischen Russland dem Menschen ein Wolf. Und zweitens war es vor der Öffnung des eisernen Vorhangs auch nicht besser.

Je länger das Ganze dauert, je höher sich die Leichenberge türmen, je tiefer die sehr allgemein gehaltenen menschlichen Abgründe gähnen, in die uns der Regisseur blicken lässt, desto mehr drängt sich der Verdacht auf, dass man eher einer technisch brillanten Fingerübung in filmischer Misanthropie beiwohnt, als einem Film über russische oder auch nur irgendwelche Realitäten.

„Mein Glück“. Regie: Sergei Loznitsa. Mit Viktor Nemets, Vladimir Golovin u. a. Deutschland/Ukraine/Niederlande 2010, 127 Min.