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Archiv-Artikel

Man flaniert und staunt

TANZTHEATER Das Festival Foreign Affairs beschert der Hauptstadt ein weiteres Museum. Sein Musée de la danse realisiert Boris Charmatz am Sowjetischen Ehrenmal in Treptow

Es braucht neben Tanzschulen und -theatern einen dritten Ort, eine Art Ideenlaboratorium. Deshalb existiert das Museum als nomadische Struktur

VON ANNETT JAENSCH

In Berlin kann man sich in rund 170 Museen tummeln. Aktuell beschert das Festival Foreign Affairs der Stadt noch ein weiteres der besonderen Art: das Musée de la danse. Wer beim Stichwort Tanzmuseum ins Grübeln kommt, wie sich Tanz als flüchtiges Medium überhaupt bewahren lässt, findet überraschende Antworten bei Boris Charmatz. Dem französischen Choreografen ist in diesem Jahr ein Programmschwerpunkt gewidmet. Angereist ist er mit einer Reihe von Formaten, die Einblick in einen ganz eigenen kreativen Kosmos geben.

Ein Ausrufezeichen setzte gleich am Eröffnungswochenende die Performance „20 Dancers for the XX Century“ am Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park. Stalinistischer Heldenprunk, tonnenschwer in Stein gemeißelt, prägt das riesige Areal, das Mahnmal und Friedhof in einem ist. Lässt sich solch ein Platz überhaupt mit Tanz bespielen, droht er nicht erdrückt zu werden von der pathosumflorten Schwere? Vor Ort sind diese Bedenken schnell verflogen. Über die Anlage verstreut, ballen sich Zuschauerinseln um die Performer, die nicht nur tanzen, sondern auch erklären, was sie tanzen.

Man flaniert und staunt, denn an jeder Station öffnet sich ein anderes Fenster in die Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts: Da spürt Ko Murobushi auf hartem Pflaster Butoh-Posen nach, ein Stück weiter lässt Ashley Chen die legendäre Formensprache von Merce Cunningham aufleben. Reinhild Hoffmann taucht am Fuße des Soldatendenkmals zu einem Text von Heiner Müller in ein dunkel drängendes Solo ein, während Alex Mugler zwischen Buchsbaumhecken einen Crashkurs in Voguing gibt, einem Tanzstil, der in den 1960er Jahren in der homosexuellen Szene New Yorks entstand. So geht es weiter auf diesem Parcours: Man entdeckt Ikonisches neben weniger Bekanntem. Das Konzept funktioniert – nicht zuletzt, weil Charmatz und sein Tross dem Mahnmal aus Stein ein lebendiges Archiv der Erinnerung gegenüberstellen.

„Subjektive, archäologische Arbeit“, so fasst am Tag nach der Premiere ein sichtlich zufriedener Boris Charmatz die Strategie hinter der Mixtur zusammen. „Wir sind keine Tanzhistoriker, wir wollen schließlich kein Schulbuch des Tanzes vorlegen.“ Auf sein Tanzmuseum angesprochen, holt er begeistert aus. Alles beginnt im Jahr 2009, als er die Leitung des Choreografischen Zentrums in Rennes übernimmt und es kurzerhand „Musée de la danse“ tauft. Es brauche neben Tanzschulen und Theatern einen dritten Ort, eine Art Ideenlaboratorium. Deshalb existiert das Museum auch als nomadische Struktur. „20 Dancers for the XX Century“ ist so ein Format, das auf Reisen geht. Zu sehen war es bereits in Rennes und im New Yorker MoMA. Die Neuauflage am Treptower Ehrenmal habe ihn gereizt, der geschichtliche Ballast aber auch enormen Respekt eingeflößt.

Festivalleiter Matthias von Hartz hat beim Fokus Tanz – nach William Forsythe im vergangenen Jahr – mit Charmatz erneut auf einen Künstler gesetzt, der ganz bewusst transdisziplinäre Schnittstellen erkundet und vieles in einem ist: Choreograf, umtriebiger Netzwerker, Tänzer, Dozent, nun auch Museumsdirektor. Der in seiner Karriere immer wieder auch Haken schlägt. Heute radikal zeitgenössisch, hat Charmatz, Jahrgang 1973, eigentlich eine Ausbildung an der Ballettschule der Pariser Oper hinter sich. Erste eigene Choreografien sorgten schnell für Furore, weil er munter Grenzen unterlief. Inzwischen gehen rund 20 Stücke auf sein Konto. Zuletzt war es die Produktion „Enfant“ aus dem Jahr 2011, die enorm polarisierte, weil Charmatz den heutigen Blick auf Kinder untersuchte und dafür gleichermaßen verstörende wie zärtliche Bilder fand.

Dass er Aufführungsmodi gern gegen den Strich bürstet, zeigen unter anderem auch zwei ältere Arbeiten, die bei dem Festival zu sehen sind. In „Aatt enen tionon“ (1996) ist die Bühnensituation in die Vertikale gekippt. Zwei Tänzer und eine Tänzerin agieren auf drei Plattformen eines Gerüstes, ohne Begrenzung nach außen. Das zerdehnte „Attention“ aus dem Titel gerät zum Motto des Moments. Denn der Fokus der Aufmerksamkeit muss sich in diesem prekären Setting ständig neu schärfen, auch für das Publikum, das die Beobachterposition frei wählen kann.

Die Installation „héâtre-élévision“ (2002) wiederum spielt mit dem Konzept von An- und Abwesenheit. 10.000 Besucher haben diese Arbeit wohl schon gesehen – nacheinander allerdings, peilt Charmatz lachend über den Daumen. Konzipiert ist das Ganze nämlich nur für eine Person, die es sich unter einem Monitor auf einem falschen Piano bequem macht und den Performern in gefilmter Version folgt.

■ „héâtre-élévision: bis 13. Juli, 11–19 Uhr, Martin-Gropius-Bau; „Aatt enen tionon“: 7. Juli, 22 Uhr, St. Agnes; „Expo Zéro“: 12. und 13. Juli, 12–17 Uhr, Kunstsaele Berlin