Südenostenwestennorden – Bus zur Tarifgrenze : Teil 1 – Norden: Mit dem 107er nach Schildow
Vor dem abgerockten Gebäude der Pension Pankow neben einem Quarktaschen-Imbiss-Wagen zweifelt man an der Mission. Denn der 107er soll erst in 23 Minuten wieder fahren. Aber jetzt auf Straßenbahn umsatteln ist nicht. Auch der 250er, der öfter fährt, kommt nicht in Frage. Denn die selbst gestellte Aufgabe lautet: Fahre ohne Stadt- und Fahrplan mit einem Bus in alle vier Himmelsrichtungen. So weit es geht. Und versuche dabei, mit dem AB-Ticket heimlich in die C-Zone vorzudringen. Eine Grenzerfahrung im zigfachen Wortsinn.
Wird die Stadtgrenze mit der Tarifgrenze übereinstimmen? Wurde die Mauer in den Köpfen schlimmerweise als Tarifgrenze zementiert? Will der Typ mit dem Hate-Sweatshirt und den runenartigen Buchstaben in der Fastglatze auch mit dem 107er nach Schildow? Endlich biegt mein Eindecker um die Ecke. Der Fascho steigt in die Straßenbahn M1, deren Verfolgung wir sofort aufnehmen, da die Strecken der Linien sich die ersten paar Kilometer decken. Ich sitze auf der Rückbank, unter mir der Dieselmotor, der klingt, als könnten wir bis Dakar durchhalten.
Rathaus Pankow wird es voller. Eine Lidl-Tüten-Trägerin mit kleinem Mädchen steigt ein. Sie haben ein Baby in einer Wiege dabei, das sie zwischen sich stellen. Die größere Tochter rammt ihm brutal die Flasche in den Mund. Es kann nicht einmal schreien.
Auf einem Rollladen einer leer stehenden alten Villa eine große Lonsdale-Reklame. Daneben ein gespraytes „Fuck You Antifa“, Letzteres immerhin wieder durchgestrichen. Draußen zieht ein nagelneuer Plus-Markt vorbei. Hinter dem Parkplatz fassen sich die kleinen Preise 0,99-, 1,29- und 0,19-Cent an den Händen und tanzen Ringelpietz. Schön, dieses Pankow da draußen. Und kunstbegeistert. Die Plus-Einfahrt ziert eine Skulptur. Tschaikowskistraße hängen wir durch ein riskantes Überholmanöver endlich die M1 ab. Ein Audi setzt verschreckt in eine Einfahrt zurück. Links aus dem Fenster hinter Wiesen weit weg Hochhäuser. Wahrscheinlich das Märkische Viertel.
Angenehmes Tempo. Es wird ländlicher. Die Haltestellenansage vom Band sagt „Nordend Arena“. Ein Fußballplatz mit Minitribünen. „Botanischer Garten“ und „Försterei“ steigt keiner ein oder aus, der Diesel freut sich. Lustige Läden. Eine Bärenbeschläge GmbH und Pooltechnik Pumpen Ohl, mit einem runden Becken im Garten und schon wieder Kunst: ein Gipsadonis mit einem knallblauen Wasserschlauch um die Hüften. Danach kommt, öhm, Haltestelle Gurkensteig. Langsam hat man Lust auf Schildowbürger, die einem einen Streich spielen.
Aber wo ist die verdammte Tarifgrenze? Fahre ich schon schwarz? Kann man keine Ortsschilder aufstellen, wo draufsteht: Sie verlassen jetzt den Sektor B? Der 107er setzt an zu einem letzten Schlenker. Biegt ein auf einen Kirchenvorplatz: Endstation. C steht auf dem Haltestellenschild. Yeah! „Ich unternehm jetzt was“, hat ein privater Vermögensberater an seine Glastür geschrieben. Ich laufe im schönen Tarifgrenzstreifen zickzack bis Glienicke. ANDREAS BECKER