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Archiv-Artikel

Gewalt erzeugt selbst Gewalt

Der brasilianische Film „Atos dos Homens“ spürt einem Massaker in Rios Suburbs nach

Im Frühjahr 2005 wird die Baixada Flumeninense, ein 3,5-Millionen Einwohner fassendes Vorstadtkonglomerat jenseits der Autobahn bei Rio de Janeiro, Schauplatz eines bislang beispiellosen Verbrechens: Ein herumfahrender Trupp Polizisten tötet an einem Abend wahllos 29 Passanten. Von einem solchem Massaker geht ein zweifacher Schrecken aus: Da ist der erste, offensichtliche, hervorgerufen vom puren Ausmaß des Blutbads, der Unfassbarkeit des Zufälligen, dem einzelne, völlig unschuldige Menschen zum Opfer fallen. Und dann gibt es den zweiten Schrecken, der sich erst einstellt, wenn die Ursachen und Auslöser des Massakers in den Blick geraten. Den Autoren von „Atos dos Homens“ geht es um Letzteres: um das nur schwer in Bilder zu fassende Dispositiv der Gewalt, das einem Blutbad vorausgeht.

So beginnt der Film erst mal explizit mit Schrift statt mit Bildern. Die Dokumentarfilmer erklären, dass sie selbst von den Ereignissen eingeholt wurden. Dann folgen für eine gute halbe Stunde eher beiläufige Bilder aus der Baixada Fluminense. Man erkennt den typischen Mix aus Arm und Reich, aus neuester Kommunikationstechnik und vormodernen Praktiken, aus schönster Natur und hässlichsten Betonruinen, die die zerrissenen Gesellschaften Lateinamerikas ausmachen. Vereinzelt spricht jemand aus dem Off oder auch vor der Kamera von dem Massaker. Die Täter hätten davor feierlich gegessen und getrunken, heißt es etwa. Ein Zeitungsfotograf, einer der Ersten am Tatort, erzählt von seinem Job, der eine gewisse Härte erfordert.

Ein Transvestit gibt Einblicke in sein Leben; eines der Opfer hat ihm besonders nahe gestanden. Ein Uniformierter erklärt im Interview anschaulich, dass die Polizei die einzige Artikulation der Staatsmacht sei, die die Bewohner einer Siedlung wie der Baixada Fluminense sieben Tage die Woche vor Augen hätten. Vom Ehekrach über den Krankentransport bis hin zur Geburtshilfe seien es Polizisten, von denen die Einwohner die Problemlösung erwarteten. Was sich zunächst nach einer sachlichen Analyse der Zustände in einem Staat ohne Zivilgesellschaft anhört, bekommt im weiteren Verlauf des Films eine immer bedrohlichere Dimension: Das Massaker wurde von Polizisten verübt, die es in ihrem Selbstverständnis als Bürgerservice als ihre Aufgabe ansehen, für „das Verschwinden“ von Verbrechern zu sorgen. Doch erst nach und nach rückt das Massaker selbst stärker ins Zentrum des Films – ohne dass je Bilder davon zu sehen wären. Man erfährt etwas über den Ablauf des Abends und kann sich aus vereinzelten Äußerungen auch die eigentlichen Ursachen zusammensetzen: Wahllos in die Menge zu schießen, war eine Machtdemonstration der beteiligten Polizisten, die damit rein innerpolizeiliche Querelen ausfochten.

Was zu Beginn des Films fast wie ein allzu beiläufig zusammengestelltes Panorama von Baixada-Bewohnern erschien – die Radiomoderatoren, der Fotograf, der Polizist, der Transvestit – wird mehr und mehr zum zwingenden Zusammenhang. Die Protagonisten teilen sich immer deutlicher auf in den unversöhnlichen Gegensatz zwischen denjenigen, die die Tat rechtfertigen und denjenigen, die ein solches Unrecht bis heute nicht fassen können. Bis zum Ende sind manche Stimmen nur aus dem Off zu hören, aber längst braucht man als Zuschauer gar keine Bilder mehr, um sich die brutalen Traditionen vorzustellen, die das Massaker möglich machten.BARBARA SCHWEIZERHOF

„Atos dos Homens – Acts of Men“. Regie: Kiko Goifman, Bra/D 2006, 75 Minuten, Eiszeit