„Weitergabe unvermeidbar“

PSYCHE Gerhard Vinnai sucht das Gespräch über „lange Schatten“ in der Familiengeschichte

■ 70, lehrte bis 2005 als Professor für Analytische Sozialpsychologie an der Uni Bremen.

taz: Herr Vinnai, inwiefern spiegeln sich historische Gewalterfahrungen in Familiengeschichten?

Gerhard Vinnai: Durch die Identifizierung mit Eltern und Großeltern werden sie unvermeidbar weitergegeben und schlagen sich in der Psyche der Nachgeborenen nieder. Die nachfolgenden Generationen übernehmen etwas von der verleugneten Schuld, die im Übrigen nicht unbedingt einer realen Schuld entsprechen muss.

Das klingt ein bisschen nach Erbsünde oder „Familienfluch“.

Man soll das nicht zu sehr mythologisieren, aber es hat – in einem nicht-theologischen Sinn – durchaus etwas von „Erbsünde“. Wenn über die reale Geschichte nicht gesprochen wird, bilden sich Phantasien, die ihre Wirkungen entfalten. Das Unterbewusste kommuniziert ja auch mit dem Unterbewussten. Dabei gibt es auch die neurotische Variante, das übertriebene, alles beherrschende Suchen nach Schuld.

Derzeit wächst in Deutschland die dritte nach 1945 geborene Generation heran. Ist die auch noch betroffen?

Es nimmt natürlich ab und kommt auch darauf an, wie die Eltern jeweils damit umgegangen sind. Die treffen allerdings zunehmend auf die Schwierigkeit, dass ihre Kinder von der Thematik gar nichts mehr wissen wollen.

Es gibt einerseits eine mediale Überpräsenz mit der Gefahr von Überdruss und Trivialisierung – und andererseits mangelnde Bereitschaft, sich mit der eigenen Familiengeschichte auseinander zu setzen?

Ja. Ich hoffe aber, dass sich heute Abend Zuhörer zu Wort melden, um von ihren diesbezüglichen Erfahrungen zu berichten. Das Thema betrifft ja in mehr oder weniger starker Weise jeden, dessen Angehörige nicht im Widerstand waren – also fast alle.

Interview: HENNING BLEYL

„Lange Schatten – Familiengeschichte und NS-Vergangenheit“: 19 Uhr, Arbeitnehmerkammer