AUSGEHEN UND RUMSTEHEN VON TIM CASPAR BOEHMEDER CLUB TRANSMEDIALE WECKT SPORTLICHEN EHRGEIZ: EIN PERFORMANCE-MARATHON
: Wuchern rund ums Kottbusser Tor

VON TIM CASPAR BOEHME

AUSGEHEN UND RUMSTEHEN

Kehren jetzt die Rhizome zurück?

Dezentralität war in den Neunzigern ein, äh, zentraler Topos in der poststrukturalistischen Theorie, und die in alle möglichen Richtungen wuchernden Wurzelgeflechte dienten als Metapher für Netzwerke, die sich ohne Zentrum selbst organisieren.

Als so ein Netzwerk verstand sich immer auch der Club Transmediale (CTM), und in diesem Jahr bekam das Festival zum ersten Mal den passenden Rahmen dafür. Statt wie gewohnt in der Maria oder im vergangenen Jahr im WMF fand der CTM jetzt an vielen Orten zugleich statt, im Hebbel am Ufer oder im HBC, vor allem aber rund um das Kottbusser Tor. Früher konnte man beim CTM gemächlich von einem Clubraum der Maria zum nächsten pilgern. Dieses Jahr war das alles etwas mühseliger, da jeder Wechsel mit genauer Planung verbunden.

Donnerstag war so ein Fall. Da begann der Abend im HAU 2 mit einer Darbietung von Robert Henke alias Monolake, der für die audiovisuelle Installation „CineChamber“, eine Kombination aus Rundumleinwänden und Surround-Klang, gemeinsam mit dem Programmierer Tarrik Barri ein Stück erarbeitet hatte, in dem sich Bild und Klang fließend durch den Raum bewegen. Wie Henke mit Lautstärke umgeht, sucht in der Techno-Musik seinesgleichen, und davon profitierte seine Musik ganz außerordentlich. Mit den bedeutungsschwanger hallenden Bässen gab er sich zugleich als großer Techno-Romantiker zu erkennen. Schade, dass die Bilder dazu über avanciertes Dekor kaum hinausgingen.

Statt sich groß mit Kritik aufzuhalten, ging es gleich weiter ins HBC. Dort konnte man zwei Antipoden an der Gitarre erleben: Ryan Francesconi, der neben Balkan-Musik-Projekten mit der Folk-Ikone Joanna Newsom zusammenarbeitete, gefolgt von James Blackshaw, minimalistischer Zwölfsaiten-Virtuose. Während Francesconi die Volksmusik des Balkan oder asiatischen Gamelan zu minutiös ausgearbeiteten Kompositionen verarbeitet, rattern bei Blackshaw die Arpeggien bei fast konstanter Lautstärke durch. Interessant wird seine Musik insbesondere durch die eleganten Melodien, die er über seinen flächigen Stücken entstehen lässt.

Neben der Musik war auch das Publikum erkennbar anders als im HAU: statt Medienkünstlern aus aller Welt innig lauschende Studenten neben gesetzten Hipstern. Am Kottbusser Tor, in der Paloma Bar, der „Partyküche“ des Festivals, war es schließlich so voll, dass ein längerer Aufenthalt mit Erstickungsrisiko verbunden gewesen wäre.

Im Monarch wurde derweil recht entspannt im Sitzen der Plattenauswahl der DJs gelauscht, während sich das geringfügig betagtere Publikum im West Germany auf die Darbietung der New Yorker Noise-Pioniere The Haters einstimmte. Die beiden Performer in SM-Gewandung hielten dann ohne Murren und Ermüdungserscheinungen über eine Viertelstunde lang Koffer in die Luft, mit denen sie sehr laute Frequenzen erzeugten. Das Geheimnis des Inhalts blieb ungelüftet.

Im Festsaal Kreuzberg schließlich traf man wieder auf eine jüngere Tänzerschar, die sich gerade von den lebhaften Discostep-Improvisationen eines Dorian Concept begeistern ließ. Man einigte sich rasch darauf, dass man es bei dem Wiener und seinem Stilmix aus Dubstep, Funk und Boogie mit einer bemerkenswerten Erscheinung zu tun hat.

Das war der Donnerstag. An anderen Tagen konnte man sich hingegen mühelos am Kottbusser Tor bewegen, bei der Partynacht des Labels Hyperdub im Berghain am Freitag etwa mit dem düsteren Elektropop-Trio Darkstar oder dem dynamisch-nervösen Dubstep von Labelboss Kode9.

Am Sonntag kam es dann zum würdigen Finale mit Free-Jazz-Legende Peter Brötzmann und seiner hochkarätig besetzten Formation Full Blast, die mit Saxofon, Bass und Schlagzeug auf höchstem Niveau und Energielevel feuerte. Und zum Ausklang konnte man sich noch einmal in der CineChamber von den otoakustischen Fähigkeiten der Künstlerin Maryanne Amacher überzeugen – mit Frequenzen, die an der Grenze zum Trommelfellriss im Ohr klingelten.