Filmlandschaften im Fernen Osten

Der Sammelband „Kabul/Teheran 1979 ff“ untersucht Kino und Alltag in den krisengeschüttelten Metropolen

Gewichtig kommt er daher, der Sammelband „Kabul/Teheran 1979 ff“, die mittlerweile sechste Publikation der metroZones-Reihe. Rund 400 Seiten stark, reich bebildert und mit Detailwissen nur so gespickt, gibt er umfassend Auskunft über „Filmlandschaften, Städte unter Stress und Migration“. Die beiden Hauptstädte des Titels und die Region, die sie repräsentieren, sind mitsamt ihren bekannten kriegerischen, ethnischen, religiösen Konfliktszenarien schon seit langem Gegenstand politischer Kommentare und Reportagen. Das Verdienst der vorliegenden Publikation ist es, der sattsam bekannten Außenperspektive die Innenansicht aus den beiden Zentren entgegenzusetzen, den städtischen Alltag jenseits der hohen Politik. Das Marginale steht hier im Mittelpunkt, die sogenannten informellen Praktiken, die für das tägliche Überleben in zwei Metropolen mit ihren zusammengenommen etwa 17 Millionen Einwohnern entscheidender sind als das, was über die offizielle Berichterstattung verlautbart wird.

Die über 30 Beiträge wechseln zwischen Dokumentation und Analyse, Übersicht und Nahaufnahme. Zwei thematische Leitlinien bestimmen die inhaltliche Ausrichtung: die Stadtentwicklung und das Kino. Wie kann das zusammen gedacht werden, die flüchtigen Bilder und die Immobilien der gebauten Umwelt? Wie die planenden und steuernden Stadtentwickler, so stellen auch die Filmemacher Mittel der Vergesellschaftung bereit: Vor allem in Lehr- und Dokumentarfilmen, aber auch im Entertainment, soll eine Gesellschaft ihre regulierenden Vorbilder finden. Und wie das Kino dient auch Architektur der Spiegelung eines sozialen Körpers – sei es als Propaganda der Machthaber, sei es in der Repräsentation der Ohnmächtigen. Aus dem „Eigensinn kultureller Praktiken“ ist daher mehr zu erfahren vom Leben im Iran und in Afghanistan als in den ohnehin spärlichen und häufig ideologisch überformten Bildern, die hierzulande normalerweise Verbreitung finden.

Alle Beiträge gehen von den Ereignissen des Umbruchsjahres 1979 – Sturz des Schah-Regimes im Iran und Ausrufung der Islamischen Republik, Einmarsch der sowjetischen Truppen in Afghanistan – aus, einem Datum, dessen Nachwirkungen noch unsere Gegenwart bestimmen. Von ihm aus lassen sich zahlreiche Verbindungslinien ziehen. Zum Ende des Kalten Krieges 1989, zur Studentenrevolte in Berlin, die 1967 mit den Demonstrationen anlässlich des Schah-Besuches eingeläutet wurde, zum gegenwärtigen politischen Handeln gegenüber der Teheraner Armutsbevölkerung als Folge der Islamischen Revolution. Die Erkundung der Filmlandschaften erweist sich dabei als fruchtbarer Weg, einen Einblick zu bekommen sowohl in die Realität der Länder als auch in ihre Wunschbilder. Joseph Vogl erkundet die filmische Repräsentation Afghanistans „zwischen Traumland und Wüste“, als eines Ortes ohne Adresse, einer Zone, in der der Ausnahmezustand die Regel darstellt und alle Verhältnisse auf den Kopf gestellt erscheinen. Dann kann die Ein-Mann-Militärmaschine Rambo, so die Pointe des Beitrages, auf der Leinwand bereits die Position des Un(an)greifbaren markieren, die zwei Jahrzehnte später von Bin Laden und al-Qaida eingenommen werden wird. Die ungeschriebene Filmgeschichte Afghanistans rekonstruiert Sandra Schäfer im Gespräch mit Siddiq Barmak, Regisseur des Films „Osama“ und dem Leiter des staatlichen Filminstitutes Latif Ahmadi. Skizziert wird so eine Geschichte der Zerrissenheiten, des Mangels an Produktionsmitteln und den Zensurvorgaben wechselnder Machthaber.

Dominik Kamalzadeh nimmt Korrekturen an der westlichen Rezeption Mohsen Makhmalbafs vor, der im internationalen Festivalbetrieb vor allem als Ästhet und Vertreter eines Neorealismus iranischer Prägung gefeiert wird. Unter den Tisch fällt so, dass Makhmalbaf seine Karriere als militanter Anhänger der Islamischen Revolution begann und nach 1979 als quasi „offizieller Regisseur des Iran“ als einer von wenigen nicht unter Repressalien der neuen Herrscher zu leiden hatte. In dieser Anfangsphase entstanden vor allem Agitationsfilme, die in Moscheen und Gefängnissen vorgeführt wurden. Davon ausgehend, beschreibt Kamalzadeh die Entwicklung des Filmemachers über mehrere Stationen: in Makhmalbafs eigenen Worten den „Wandel vom Priester zum Künstler“, zu einem Skeptiker des Kinos, dessen jüngste Produktionen weniger von einem politischen Gehalt gezeichnet sind als von einer poetischen Metaphorik, die sich zuweilen ins Unverbindliche flüchtet.

Während Makhmalbaf sich im wahrsten Sinne des Wortes zu einer Institution des iranischen Kinos entwickeln konnte, ist Kamran Shirdel hierzulande weitgehend unbekannt geblieben. Gabrielle Hachard-Sébire und Matthieu Orléan stellen in ihrem Porträt den Filmemacher vor, dessen unter dem Schah-Regime entstandenen Dokumentarfilme zwar größtenteils dem Aufführverbot zum Opfer fielen, der durch seinen Einfluss auf eine nachfolgende Regisseursgeneration aber als „Schutzpatron“ des modernen iranischen Kinos gelten darf. DIETMAR KAMMERER

Jochen Becker, Madeleine Bernstorff, Sandra Schäfer (Hg.): „Kabul/Teheran 1979 ff. Filmlandschaften, Städte unter Stress und Migration“. metroZones 6, b_books, Berlin 2006, 400 Seiten, 16 €