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Archiv-Artikel

Wenn das Parlament denkt

SCHLAGLOCH VON MATHIAS GREFFRATH Wie sieht das gute Leben aus, wenn wir nicht mehr auf Wachstum setzen?

Mathias Greffrath

■ lebt als freier Autor und Publizist in Berlin. Zuletzt schrieb er an dieser Stelle über die Stuttgart-Proteste bei Minustemperaturen. Die Vision bleibt: „Träume am Heizpilz“.

Es kommt nicht alle Tage vor, dass im Parlament Adorno zitiert wird: „Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und lässt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, statt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen.“ Mit Hilfe der „Minima Moralia“ befand der CDU-Abgeordnete Matthias Zimmer, die Idee des Fortschritts sei „seltsam eingedunkelt“, weshalb „nicht weniger als die Neubestimmung des Verhältnisses von Mensch, Technik und Natur“ auf der Tagesordnung stehe; und weiter: die Frage, „wohin wir wollen und was uns als Gesellschaft wichtig ist“.

Seltsam eingedunkelt

Zimmer ist zweiter Vorsitzender der Enquetekommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“, die gerade ihre Arbeit aufnimmt. In Enquetekommissionen bearbeiten hochmotivierte Abgeordnete zusammen mit Experten komplexe und konsensbedürftige Probleme, um dem Parlament „konkrete Handlungsempfehlungen“ zu liefern. Meist führt das zu dicken Berichten ohne politische Folgen.

Man möchte nicht unken, aber schon die Einsetzungsdebatte war „seltsam eingedunkelt“. Die FDP-Redner sahen die Aufgabe der Kommission darin, der bei vier Fünfteln der Bürger „um sich greifenden Wachstumsskepsis zu begegnen“, oder beschworen das Gespenst eines Öko-Staats, der Autos verbietet und Biokäse vorschreibt. Der CSU-Sprecher will den Missbrauch der „Kommission als einen Weg auf der Suche nach dem Kommunismus“ verhindern, im Übrigen glaubt er gegen alle Empirie fest daran, dass technische Kreativität den Weg aus der Klimafalle ins Reich globalen Wohlstands ebnet. Die SPD, die mit den Grünen die Enquete anstieß, entschärfte um des Konsenses willen einige Passagen, bekannte sich zum „Fortschritt“ und zur sozialen Marktwirtschaft und fragte leise, ob wir die denn schon hätten. Die Grünen schwanken in der Frage, ob die Krisen ohne heiklen Konsumverzicht überwunden werden können. Die Linke rächte sich für ihre Ausgrenzung, indem sie den Ursprungsantrag von SPD und Grünen übernahm. Die Bedeutung, die die Parteien der Enquete beimessen, zeigt sich übrigens durch die Personalauswahl: 13 der 17 Abgeordneten sind Bundestagsneulinge.

Der hyperweit gefasste Enquete-Auftrag (Drucksache 17/3853) reicht von der grundsätzlichen Frage, ob Kapitalismus und Sozialstaat ohne Wachstum überhaupt möglich sind, über 36 komplexe Detailuntersuchungen bis hin zur Suche nach neuen Lebensstilen. Diese unpraktikable Breite und die Vorabpositionen lassen einen informativen Reader und eine Fülle kontroverser Voten im Schlussbericht erwarten. Es sei denn, der Vorsitzenden Daniela Kolbe (SPD) und ihrem Kollegen Zimmer gelänge es, den Abgeordneten und ihren positionskonformen Experten gleich zu Beginn einen Konsens abzuverlangen: über den Ist-Zustand, über die Erwartbarkeit und die ökologischen Schranken künftigen Wachstums und die Kriterien für soziale Marktwirtschaft und Nachhaltigkeit.

Minima Politica

Erst auf solch gemeinsamer Grundlage könnten sinnvoll Fragen gestellt werden. Zum Beispiel: Wie können die Politikziele intakte Umwelt, Generationengerechtigkeit, Bildung, Innovation, Vollbeschäftigung, soziale Sicherheit, öffentliche Daseinsvorsorge ohne Wachstum erreicht werden? Welche konkreten politischen Rahmenbedingungen sind hierfür notwendig? Welche Mittel erforderlich? – Nein, das sind keine „linken“ Fragen, und auch keine „Wohltaten“ – optional wie das Weihnachtsgeld. Sondern die „Minima Politica“, die sozialen Mindestbedingungen von Demokratie. Ich entnehme sie der Arbeit des erfreulich parteiübergreifenden „Denkwerks Zukunft“ des wachstumskritischen, wertkonservativen Meinhard Miegel, den die CDU als Experten benannt hat.

Eine Enquete, die nicht vermeintliche Wachstumszwänge als unabhängige Variable setzt, sondern von den Unverzichtbarkeiten der Demokratie ausgeht, muss sich nicht verzetteln. Sie könnte konkret alternative Instrumente zur Sicherung dieser Minima Politica (ein Begriff von Hermann Scheer) auch in den kommenden Turbulenzen erarbeiten: mehr oder weniger Markt oder Staat, mehr oder weniger Gemeineigentum oder Eigenverantwortung, ökologische und soziale Bindung des Eigentums.

Es bleibt die Unroutiniertheit

Die Parteien haben eher unerfahrene Mitglieder in die Kommission geschickt. Doch die fehlende Routine ist vielleicht die Chance

Eine solche Synopse alternativer und kontroverser Pfade und Instrumente könnte tatsächlich „konkrete Handlungsempfehlungen“ liefern. Sie wäre zugleich eine Unabhängigkeitserklärung des Parlaments gegenüber den Mächten des Marktes. Denn, da hat Matthias Zimmer ganz recht: Es geht allem voran um das „gute Leben“, auch in der Wende zum Weniger. Und dazu gehören, bis auf Weiteres, unsere Vorstellungen von Demokratie, Gerechtigkeit und Solidarität.

Angesichts der Präliminarien und der Besetzung von Kommission und gemäß optimaler Berechenbarkeit ist ein solches Resultat eher unwahrscheinlich: Den unsicheren Kantonisten Miegel hat die CDU auch sicherheitshalber erst nicht in die Arbeitsgruppe über Ausbleiben, Notwendigkeit oder Schaden des Wachstums gelassen, wo am ehesten politische Kontroversen ausbrechen. Und mit Koalitionsmehrheit hat die Wachstumsenquete beschlossen, Dennis Meadows, dessen Bericht an den Club of Rome im Einsetzungsbeschluss zitiert wird, nicht einzuladen.

Wenn Abgeordnete Adorno zitieren, sind auch andere Überraschungen möglich. Etwa, dass engagierte und profilbestrebte Parlamentsneulinge „aus Freiheit die Möglichkeit nutzen“, sich den Gruppen und dem „wilden Irrsinn, den verblichene Ökonomen verfasst haben“, zu entziehen. Letzteres ist nicht von Adorno, sondern von Keynes. Die Ideen, auf die Politiker sich stützen, so schreibt er, wären in der Regel nicht die neuesten, aber in Zeiten des Wandels seien Menschen mehr als sonst begierig, Neues zu denken. Vielleicht ist das die Chance: dass hier keine Fraktions-Routiniers am Werk sind.