: Wo, wenn nicht in Tübingen?
Der neue Oberbürgermeister Boris Palmer hat Teile Tübingens bereits in helle Aufregung versetzt. Dabei kommt das Beste erst noch: Palmer möchte mit den Bürgern der schwäbischen Universitätsstadt den weltweiten Kampf gegen die Klimakatastrophe anführen. Ist das nicht ein bisschen dick?
AUS TÜBINGEN PETER UNFRIED
Selten dürfte eine Stadträtin, die eine Amtsvereidigung vornimmt, eine ähnliche Resonanz erlebt haben wie Gretel Schwägerle von der Tübinger CDU. 700 Menschen hatten sich in einen großen Kultursaal gedrängelt, vom (nicht politisch regierenden) König (El-Hadj Sheriff Issa Nassirou Bouraima aus Benin) bis zu einer Vizepräsidentin des deutschen Bundestags (Katrin Göring-Eckardt), vom Olympiasieger (Dieter Baumann) bis zum einst erbittertsten Gegner eines Papstes (Hans Küng) und diversen Bundestags-, Landtags- und EU-Abgeordneten. Weitere 300 verfolgten einen Stock höher auf Fernsehschirmen gebannt, wie Schwägerle dem neuen Oberbürgermeister der schwäbischen Universitätsstadt Tübingen die Amtskette um den Hals schlang, „Gottes Segen“ wünschte und die Vereidigungsformel vorsprach.
Talent zum Event
Kurzum: Wer im traditionell diskursiven und partizipativen Tübingen seine Sorge artikulierte, die Verlegung dieser Vereidigung aus dem Rathaus sei ein Beweis dafür, dass der neue OB als Boris Palmer Superstar aus der Stadt eine One-Man-Show machen wolle, kann aus der Zeremonie vom vergangenen Donnerstag auch andere Schlüsse ziehen. Palmer ist sicher ein Mann, der auf Menschen und Medien wirkt, der das weiß und es einzusetzen weiß. Das Ereignis war in der Tat auch ein sogenannter Event, bei dem Fernsehen, Bild und sogar junge Leute dabei sein wollten. Das muss aber erstens nicht a priori schlecht sein. Und zweitens: Die anderen kriegen auch etwas ab. Am nächsten Tag hatte Frau Schwägerle es zu Titelbildern im Schwäbischen Tagblatt und im Reutlinger General-Anzeiger gebracht und Ersterem zudem mit einem gewagten Wortspiel („Ich wünsche Ihnen kein Job-Trauma, sondern den Traumjob“) die Schlagzeile geliefert.
Was zur Ökonomie der Aufmerksamkeit dazukommt, wird man sehen, wenn Herr Palmer, Frau Schwägerle und der Rest des Gemeinderats ab heute in erste Haushaltsberatungen einsteigen. Dass der Alltag nicht einfach wird, ahnt man, nachdem sieben Gemeinderäte („entschuldigt“) der Feier ferngeblieben waren und hinterher weitergeschimpft wurde. Der spektakuläre Wahlsieg des Grünen-Politikers im vergangenen Oktober (50,4 Prozent im ersten Wahlgang) gegen die damalige Amtsinhaberin Brigitte Russ-Scherer (SPD) hat zwar mancherorts Aufbruchstimmung erzeugt, allerdings ganz und gar nicht bei den Sozialdemokraten. Nicht nur Gesprächsangebote Palmers wurden seither zurückgewiesen, sondern im äußersten Fall sogar seine ausgestreckte Hand. Der Sache auf den Grund zu gehen wäre ein veritables Betätigungsfeld für einen renommierten Konfliktforscher.
Bloß keine Versöhnung
Jedenfalls scheiterten bisher auch Versuche, Versöhnungsmoderatoren wie die MdB und ehemalige Justizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) zu integrieren. Der mit absoluter Mehrheit gewählte Palmer, behauptete die SPD-Fraktionsvorsitzende Braungardt-Friedrichs, nachdem sie die Feier verlassen hatte, sei einfach „der falsche Wahlsieger“.
„Blindwütige Vorabverisse“ kritisierte das Tagblatt streng, nachdem man diese wochenlang ausgiebig im traditionell großflächigen Leserbriefbereich öffentlich gemacht hatte. Bundesweit relevanter als die Idiosynkrasien der Tübinger Sozis dürfte tatsächlich gerade für die SPD die Analyse der gesellschaftlichen Verschiebungen sein, die neben anderen Dingen auch in Palmers grün-schwarzer Mehrheit stecken.
Affront gegen Daimler
In den 80 Tagen zwischen Wahl und Arbeitsbeginn beschäftigte Palmer die Leute jedenfalls wie manch anderer in zwei Wahlperioden nicht. Vor allem auch, als er (in der taz) ankündigte, den klassischen Dienst-Daimler gegen ein umweltfreundliches Hybrid-Fahrzeug von Toyota auszutauschen. Folge: Der Vorwurf, er gefährde damit die Arbeitsplätze seiner bei Daimler im nahen Sindelfingen beschäftigten Bürgerinnen und Bürger. Und überhaupt: Ist er alt genug? Kann er „es“? Benutzt er Tübingen „nur“ als Sprungbrett?
Tja. Er ist erst 34. Aber Politveteran. Er wuchs im nahen Geradstetten auf. Er hat ein 1,0-Abi gemacht. Er ist Mathematiker. Er wurde zweimal im Wahlkreis Tübingen in den Landtag gewählt, zuletzt 2006 mit Spitzenergebnis. Er ist Verkehrs- und Umweltexperte und dürfte einer der wenigen bundesweit wahrgenommenen baden-württembergischen Landespolitiker sein (knapp vor oder hinter Oettinger). In acht Jahren ist er 42. So lange geht die Wahlperiode. Sicher gibt es Leute, die ihn spätestens dann in der Bundespolitik sehen. Andererseits: Warum ist er ausgestiegen? Es hält ihm sicher kein Spitzengrüner in Berlin (s)einen Stuhl warm.
Palmer-Vater-Folklore
Von seinem Büro im Rathaus aus kann Boris Palmer auf den Marktplatz schauen, das Zentrum der Tübinger Altstadt. Dass sein verstorbener Vater, der Obsthändler, „Remstal-Rebell“ und ewige Bürgermeisterkandidat Helmut Palmer, dort unten mit dem Sohn seine Äpfel zu verkaufen pflegte, gehört inzwischen zur Palmer-Folkore. Oben serviert er jetzt dem Gast Bioland-Apfelsaft. Aus heimischer Produktion, wie es sich gehört. Darf man als schwäbischer OB einen Toyota ordern? „Man muss es sogar“, sagt Palmer, „wenn man von der Grundüberzeugung geleitet wird, dass die heimische Autoindustrie künftig entweder ökologische Fahrzeuge verkaufen kann oder gar keine mehr.“ Die Bestellung des Prius, der neben einem herkömmlichen Benzinmotor von einem umweltfreundlichen Elektromotor angetrieben wird, sei eine „bewusste Provokation“ gewesen. „Ich will als schwäbischer OB darauf aufmerksam machen, dass Daimler Autos bauen sollte, die man unter Klimaschutzgesichtspunkten mit gutem Gewissen kaufen kann.“
Er hat sich die Mercedes-Prospekte kommen lassen. Ergebnis: Nicht einmal die C-Klasse stößt weniger als 170 g/km CO2 aus. Wer es nicht weiß: Das ist unter Klimaschutzgesichtspunkten eine absurd hohe und völlig unakzeptable Zahl. Der Prius stößt 105 g/km aus. „Ich brauche kein Auto, das in 4,9 Sekunden von null auf hundert beschleunigt“, sagt Palmer. „Ich bin nicht auf der Flucht.“ Was die schwäbischen Arbeitsplätze betrifft: Tatsächlich hängt der große wirtschaftliche Erfolg von Toyota auch damit zusammen, dass die Japaner einen technischen Vorsprung auf dem „grünen“ Markt entwickelt haben.
Es gibt spätestens seit dem vergangenen Jahr mit dem Al-Gore-Film „An Inconvenient Truth“, dem Stern-Report und dem Ende des Leugnens durch die Bush-Regierung keinerlei Zweifel mehr am Ausmaß einer Klimakatastrophe. Dennoch haben selbst die Grünen kaum Spitzenpersonal, das den Kampf dagegen im persönlichen Alltag sichtbar leben würde. „Mein dominierendes Leitbild ist die ökologische Lebensweise“ – so was sagt Palmer nicht nur. Selbst ein Sozialdemokrat wird das kaum bezweifeln können. So lässt er sich auch jetzt nicht morgens von dem ihm zustehenden Chauffeur abholen, sondern fährt mit dem Fahrrad von seinem Zuhause in Tübingens Französischem Viertel zum Rathaus. Privat hat er kein Auto. Fliegen? Kaum. Orte wie Berlin erreicht er mit dem Zug. Die Hauptsache ist, dass er eine Energiequelle für seinen Laptop findet.
Unternehmen Tübingen
Wie viel Macht und Gestaltungsmöglichkeiten hat der OB überhaupt? Er muss projektbezogene Mehrheiten im Gemeinderat organisieren wie der Parteikollege Dieter Salomon im nahen Freiburg auch. Er ist als eine Art Vorstandsvorsitzender des Tübingen-Unternehmens Diener von 85.000 Einwohnern und Chef über 1.400 Angestellte, er hat eigene Stadtwerke, er hat zumindest im Moment ein bisschen Steuereinnahmen zum Gestalten. Ein Festredner hatte ihm einen „Stern“ gewünscht, der seinen Karren ziehen möge. Dieser Stern, das kündigte seine Antrittsrede an, wird der Kampf auf lokaler Ebene gegen die globale Klimakatastrophe.
Als Special Guest ließ er den SPD-Bundestagsabgeordneten und Solarpapst Hermann Scheer eine seiner berühmten, aber auch berüchtigten Klimareden halten. Wenn auch nur in der halbstündigen Kurzversion, zeigte auch das, wie ernst es Palmer zu sein scheint. Klimaschutz ist „vorrangiges Anliegen“, er möchte eine Partnerstadt auf dem vom Klimawandel besonders negativ betroffenen Kontinent Afrika finden. Er will, schrieb er unlängst in der taz, „Städtebau mit erneuerbaren Energien und ohne Autozwang, komfortable Radwege, Fahrverbote für alte Stinker und umweltfreundliche Stromproduktion unserer selbstständigen Stadtwerke“. Jemand müsse „ja mal anfangen“. Vor allem will er die Tübinger dazu bewegen, ihre persönliche CO2-Bilanz von durchschnittlich 10 Tonnen bis 2020 auf ein „umweltverträgliches Maß zu bringen“, nämlich 3 Tonnen pro Jahr und Bürger. Das braucht zuvorderst: radikale Energieeffizienz und Eigenproduktion von sauberem Strom. Beim Empfang hinterher höhnte der ein oder andere mächtig über diesen dreisten „Ankündigungsweltmeister“. Aber angesichts des gerade erst wachsenden Klimabewusstseins ist die Ankündigung nicht populistisch, sondern mutig und spektakulär. Sollte es klappen, es wäre eine Öko- und Effizienzrevolution, wie dieses Land sie noch nicht gesehen hat – aber dringend braucht.
Luxus eines grünen OB
Nur: Ist das nicht ein bisschen dick für Lokalpolitik? Im Gegenteil, sagt Boris Palmer: Wo, wenn nicht in den Kommunen und speziell in einer Stadt, die sich „den Luxus eines grünen OB leistet“? Mehr noch: in der die Lebensqualität, der Hölderlin-Turm, Walter Jens und der Weltethos zu Hause sind. Kurz: Wo sollte so etwas Großes beginnen, wenn nicht in Tübingen?