: Demenz soll kein Privatproblem bleiben
Die Koalition will die Pflegeversicherung reformieren. Auch Demente sollen einen Anspruch auf Leistungen haben. Doch die Pflegekassen sind leer. Umstritten ist nun, ob nur die Versicherten oder auch die Arbeitgeber stärker belastet werden sollen
AUS BERLIN ANNA LEHMANN
Mit Parallelwelten kennt Wilfried Wesemann sich aus. Er leitet die Geschäfte der Geriatrie und Altenhilfe im Evangelischen Johannesstift Berlin. Hier am Stadtrand werden 600 alte Menschen dauerhaft gepflegt. Etwa die Hälfte der Heimbewohner leidet auch an Demenz, jener Gehirnkrankheit, die erst Erinnerungen und später auch Wörter löscht.
Demenzkranke leben in einer eigenen Welt. Für ihre Pflege braucht man Geduld und Einfühlungsvermögen. Denn selbst wenn sie körperlich noch mobil sind – ohne eine Person, die ihnen hilft, seien sie im Alltag völlig verloren, berichtet Wesemann.
Je älter die Gesellschaft wird, desto mehr Menschen wird es geben, die solche Hilfe brauchen. Nach Schätzungen des Robert-Koch-Instituts werden im Jahr 2050 zwei Millionen Menschen an Demenz leiden. Das sind so viele, wie heute insgesamt einen gesetzlichen Anspruch auf Pflege haben. Noch aber ist die Gruppe der Demenzkranken durch die Pflegeversicherung überhaupt nicht abgesichert. Als die Pflege 1995 als fünfte Säule der Sozialversicherung eingeführt wurde, ließ man die Dementen außen vor. „Dringenden Reformbedarf“ meldet Wesemann deshalb an.
Seit zwölf Jahren hat sich weder der Pflegebegriff noch der Beitragssatz von 1,7 Prozent verändert. Gleichzeitig stiegen die Löhne und die Zahl der Gepflegten, sodass die Einnahmen seit einigen Jahren unter den Ausgaben liegen. Beim derzeitigen Beitragssatz reichen die Mittel der Pflegekassen gerade noch bis zum nächsten Jahr. Seit Jahren steht das Thema auf der politischen Agenda. Nun hat Kanzlerin Angela Merkel noch einmal betont, dass sich die Koalition des Problems in diesem Jahr annehmen wolle.
Einig sind sich die Regierungsparteien darin, dass der Pflegebegriff erweitert werden muss und auch Demenzkranke einbezogen werden. Weiterhin sollen pflegebedürftige Menschen solange wie möglich zu Hause wohnen können. Die ambulante Pflege soll gestärkt, die Heime sollen entlastet werden.
Dazu wollen Union und SPD Geld aus dem stationären in den ambulanten Bereich umschichten. Doch wie der wachsende Finanzbedarf darüber hinaus gesichert werden soll, ist umstritten. Der Koalitionsvertrag macht nur vage Vorgaben. Demnach sollen die privaten Pflegekassen den gesetzlichen etwas Geld abgeben. Die gesetzlichen Kassen sollen ähnlich wie die privaten kapitalgedeckte Reserven anlegen.
Bei der Pflege steuern SPD und Union auf den gleichen Grundsatzstreit wie bei der Gesundheitsreform zu. Die SPD will steigende Kosten auf alle umlegen und eine Bürgerversicherung einführen. „Diese Kapitalreserve können Arbeitnehmer und Arbeitgeber zusammen anlegen“, sagt die Pflegeexpertin der SPD-Bundestagsfraktion, Hilde Mattheis. Die Beiträge könnten nach Mattheis’ Vorstellungen auf 1,9 Prozent steigen. Das würde rund zwei Milliarden Euro zusätzlich in die Pflegekassen spülen. „Ich halte es nicht für gerechtfertigt, dass die Versicherten das allein tragen sollen.“
Doch genau diesen Weg will die Union gehen. Die unionsregierten Länder schlagen vor, den Beitragssatz auf dem jetzigen Niveau einzufrieren. Zusätzlich sollen die Versicherten monatlich eine Reserve von anfangs sechs Euro zurücklegen. Diese Kopfprämie soll jedes Jahr um einen Euro wachsen. Dann müsste ein Rentner, der 50 Jahre lang eingezahlt hat, von 1.000 Euro Rente monatlich 73 Euro für seine Pflegeversicherung zahlen.
Für Menschen mit wenig Einkommen sollte es deshalb einen sozialen Ausgleich geben, sagt der Pflege-Zuständige der Unionsfraktion, Willi Zylajew (CDU). Anders als seine Unionsfreunde hält er nichts davon, dass die Arbeitgeber von Mehrausgaben verschont bleiben. „Entweder man finanziert die steigenden Ausgaben durch Umschichtungen oder durch moderate Beitragserhöhungen“, sagt Zylajew.
Das Wichtigste aber steht nach Ansicht des Altenpflegers Wesemann noch gar nicht in den Reformentwürfen: mehr Zeit und Zuwendung für die Betroffenen. Ein Mensch mit Pflegestufe 3 bedarf laut Definition rund um die Uhr der Pflege. Zugestanden und bezahlt werden den Pflegediensten in einem Heim 140 Minuten pro Tag. „Wir sind immer unter Zeitdruck und natürlich geht es schneller, einen Demenzkranken selbst zu waschen, als ihn dabei zu unterstützen.“ Doch je mehr man einem Kranken abnehme, desto unselbständiger werde er. „Die Schere zwischen den Ansprüchen der Betroffenen und dem, was bezahlt wird, geht auseinander“, sagt Wesemann.