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Archiv-Artikel

Am eigenen Leib

MIGRATION Das Schauspiel Hannover öffnet die Spielstätte Ballhof für jugendliche Flüchtlinge, die das Gebäude den Sommer über künstlerisch umgestalten. Entstehen wird ein Rundgang, der den Besuchern ermöglicht, sich in die Erlebnisse der Jugendlichen einzufühlen

„Wir stellen niemanden auf die Bühne, einen Ausstellungseffekt wollen wir unbedingt vermeiden. Wir wollen vor allem die Besucher mit sich selbst konfrontieren“

LUCIE ORTMANN, DRAMATURGIE

VON ALEXANDER KOHLMANN

Die Gesprächsfetzen, die man vor der Pforte der Ballhof-Bühne des Schauspiel Hannovers unfreiwillig mithört, sind anders als sonst. Gesprochen werden Französisch, Englisch und auch Sprachen, die nicht in Europa verbreitet sind. Die Menschen, die da gemeinsam Pause machen, sind keine Schauspieler. Es sind jugendliche Flüchtlinge, die sich in Hannover aufhalten. Sie sind Teil des Theaterprojekts „Tor zur Freiheit“, das die Regisseurin Anna Horn initiiert hat.

In den Sommerferien, wenn das Theater leer steht, ziehen 50 jugendliche Zuwanderer in den Ballhof. Viele von ihnen waren noch nie in einem deutschen Theater. Jetzt übernehmen sie das Haus. Sie schaffen in den Künstlergarderoben, den Gängen und auf den Hinterbühnen ihre eigenen Institutionen und Szenerien.

Zu Spielzeitbeginn laden sie die Besucher zu einer Reise durch den umgestalteten Ballhof ein. Die Besucher kommen dabei durch ihr jeweils eigenes „Tor zur Freiheit“. Der Titel ist angelehnt an das Grenzdurchgangslager Friedland, das sich 140 Kilometer entfernt von Hannover befindet. Seit 1945 kamen über Friedland mehr als als vier Millionen Menschen nach Deutschland und nannten das Lager das „Tor zur Freiheit“.

Regisseurin Horn will mit ihrem Projekt „gegen die Klischees anspielen, die jeder sofort bei dem Wort ‚Flüchtling‘ im Kopf hat“. Das beginne bereits bei den Theatermachern selber. Zuerst habe man geplant, dass der Ballhof durchaus medienwirksam von Flüchtlingen besetzt werde, die am besten den Sommer über in dem Theater schlafen und campieren sollten.

Ein starkes Zeichen für Toleranz und eine bewusste Provokation wäre das gewesen. Damit kennt sich das Schauspiel Hannover gut aus: Bereits zu Beginn der Intendanz von Lars-Ole Walburg errichtete das Junge Schauspiel auf dem Ballhof-Platz die Hütten-Republik „Freies Wendland“, mit der Veteranen der Bürgerrechtsbewegung und Jungdemonstranten wochenlang erfolgreich konservative Politiker auf die Palme brachten. Jetzt also gleiches Spiel, nur mit Flüchtlingen, könnte man denken.

Dass die Realität anders aussieht, merkten die Regisseurin und ihre Dramaturgin Lucie Ortmann bereits bei den ersten Begegnungen mit den jungen Mitstreitern, die sie in Kooperation mit hannoverschen Schulen und dem Jugendamt gefunden haben.

Das Projekt wurde wie eine AG an den Schulen ausgeschrieben. Gesucht wurden ausländische Jugendliche. Auf eine exakte Definition, wer ein Flüchtling ist, verzichtete das Team wohlweislich. „Wie soll man da auch eine Grenze ziehen?“, fragt Regisseurin Horn. Trotzdem weiß das Team, dass viele der Jugendlichen traumatisiert sind und extreme Erfahrungen hinter sich haben. Viele sind ohne ihre Eltern gekommen und werden in ihrer Heimat verfolgt.

“Das Jugendamt verbietet uns bei vielen Mitwirkenden, sie auf Bildern zum Stück zu zeigen, weil die Taliban oder andere Verfolger aus ihrer Heimat die Fotos im Netz sehen könnten“, sagt Horn. Das habe weniger mit einem konkreten Fall zu tun, erklärt eine Mitarbeiterin des Jugendamtes. Man sei bei minderjährigen Jugendlichen eben grundsätzlich sehr vorsichtig bei der Veröffentlichung von Bildern, weil eine Gefährdung nicht auszuschließen sei.

“Das ist ein langer Prozess, bis jemand beginnt, über die Dinge zu reden, die er erlebt hat“, sagt Regisseurin Horn. „Das wollen wir nicht erzwingen.“ In der Tat reagiert die zehnköpfige Gruppe freundlich, aber reserviert auf Journalisten-Besuch bei der Arbeit.

Regisseurin Horn und Dramaturgin Ortmann machen kein Theaterstück im herkömmlichen Sinn. „Wir stellen niemanden auf die Bühne“, sagt Ortmann. Die Rampenspieler, die ihre Story erzählen, gebe es nicht, außerdem „wollen wir unbedingt einen Ausstellungseffekt vermeiden. Wir wollen vor allem die Besucher mit sich selbst konfrontieren.“

Der Rundgang durch das Theater umfasst verschiedene Stationen, bei denen von klaustrophobischer Enge bis hin zu bürokratischen Labyrinthen nachvollziehbar wird, was die Flüchtlinge erlebt haben. Jedem der Beteiligten soll die Möglichkeit gegeben werden, sich künstlerisch so auszudrücken, wie es ihm entspricht. Das beinhaltet zum Beispiel den Bau von Skulpturen und das Reparieren von alten Telefonen, die eine wichtige Rolle spielen werden.

Wofür genau, das will der achtzehnjährige Marwan noch nicht sagen, während er hingebungsvoll Telefonkabel für eine Installation lötet. Marwan kommt aus Syrien und lebt seit vier Jahren mit seiner Familie in Deutschland. Von dem Theaterprojekt haben er und sein jüngerer Bruder Roni in der Schule erfahren und waren sofort begeistert. „Ich will gerne später in einem Theater arbeiten“, sagt Marwan. „Ich würde gerne Tänzer werden, da muss man kein perfektes Deutsch sprechen.“ Vor der Tänzer-Karriere steht erstmal ein Praktikum im Ballhof, um die Theaterwirklichkeit jenseits dieses Ausnahmeprojektes kennenzulernen.

Die sieht in einem Punkt tatsächlich anders aus: Auf der Ballhof-Bühne spielen normalerweise auch Frauen und die sind im „Tor zur Freiheit“-Projekt kaum zu finden. Das liege an den kulturellen Unterschieden, sagt Regisseurin Horn: „Mädchen, die in einer gemischten Gruppe Theater spielen, das ist für viele Familien noch immer undenkbar, weil bei Theater immer auch körperliche Nähe entstehen kann.“ Es sei etwas anderes, wenn getrennte Gruppen angeboten würden, aber „wir haben uns bewusst dagegen entschieden“, sagt Dramaturgin Ortmann.

Der Frauenanteil soll bis zur Premiere im September noch erhöht werden. Das würden auch die jungen Herren an den Telefonen begrüßen. „Ansonsten gibt es ja noch uns“, sagt Regisseurin Horn: Im Produktionsteam herrsche definitiv ein Frauenüberschuss.

„Tor zur Freiheit“: Premiere am 11. September, Ballhof, Hannover