Trotz Halsweh zum Job

Der Krankenstand ist auf den niedrigsten Stand seit über 30 Jahren gesunken. Eine Ursache ist die Angst vor dem Verlust der Arbeit

AUS BERLIN ANNA LEHMANN

Mit erhöhter Temperatur und Husten lasse sich längst keiner mehr krankschreiben. „Die Leute kriechen auf allen Vieren zur Arbeit“, berichtet eine Berliner Arbeitsmedizinerin aus ihrer Praxis. Diese Alltagsbeobachtung wird durch die aktuelle Hochrechnung des Bundesgesundheitsministeriums gestützt. Im letzten Jahr erreichten die krankheitsbedingten Fehlzeiten den niedrigsten Stand seit über 30 Jahren: Durchschnittlich nur noch 7 Tage blieben die Arbeitnehmer wegen Unwohlseins zu Hause – allerdings haben die Krankschreibungen ab August wieder leicht zugenommen. Im Jahr der Wiedervereinigung ließen sich die gesetzlich Versicherten im Schnitt noch 15 Tage krankschreiben.

Das heißt nicht, dass die Deutschen immer gesünder werden, sondern ängstlicher. Eine der wichtigsten Faktoren für den niedrigen Krankenstand ist den Fachleuten der Krankenkassen zufolge die unsichere Lage am Arbeitsmarkt. „Die Leute haben Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, und gehen krank zur Arbeit“, berichtet Christian Vetter vom Wissenschaftlichen Institut der Ortskrankenkassen (Wido). Das Institut hat die AOK-Versicherten bezüglich ihrer Fehlzeiten befragt. Auch die individuellen Statistiken der Krankenkassen für ihre Mitglieder zeigen seit Jahren fallende Krankenstände.

„Auffällig ist, dass die Fehlzeiten in allen Branchen gleichermaßen zurückgehen“, berichtet der Bielefelder Gesundheitswissenschaftler Bernhard Badura, einer der Mitherausgeber des AOK-Fehlzeitenreports. Am häufigsten lassen sich Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes krankschreiben, Spitzenreiter sind die Mitarbeiter der Müllabfuhr sowie die von der Post und der Bahn. Das liege daran, dass in diesem Sektor viele ältere und behinderte Arbeitnehmer arbeiten, so Badura.

In der Privatwirtschaft führt die Verjüngungskur der letzten Jahre zu weniger Fehlzeiten. „Hier macht sich bemerkbar, dass nur noch die Hälfte der Betriebe Menschen über 50 Jahren einstellt“, so Vetter vom Wido.

Am seltensten fallen die Angestellten von Banken und Versicherungen und im Dienstleistungssektor aus. Allerdings fehlen diese vermehrt wegen psychischer Erkrankungen, die inzwischen die vierthäufigste Ursache von Arbeitsausfall sind. Wie aus dem aktuellen Gesundheitsreport der Betriebskrankenkassen hervorgeht, haben Krankheitstage wegen psychischer Störungen in den vergangenen 15 Jahren um ein Drittel zugenommen. Augenfällig ist das vor allem in Berufen, wo Menschen mit Menschen zusammenarbeiten, etwa bei sozialen Diensten oder im Krankenhaus.

Für alle Branchen gilt, dass Frauen häufiger als Männer krankheitsbedingt zu Hause bleiben. Erika Zoike, federführende Autorin des BKK-Reports, vermutet, dass dies mit dem geringeren Verdienst und dem niedrigeren Status der weiblichen Beschäftigten zusammenhänge. Zwei Faktoren, die sich auf die Arbeitszufriedenheit und die Gesundheit niederschlügen. „Frauen sind häufiger krank, aber weniger schwer“, ergänzt Badura. Er plädiert dafür, nicht blind auf die Fehlzeiten zu starren. Schließlich leiden die Qualität der Arbeit und die Produktivität, wenn das Personal mit halber Kraft arbeite.

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