: Oper als Belastungstest
Stundenlanges Ausharren im Sessel ist nicht jedermanns Sache. Am Gelsenkirchener Musiktheater feierte man deshalb nur bei der Premiere beide Teile von Hector Berlioz‘ „Les Troyens“ ab
VON REGINE MÜLLER
An Mut hat es dem Gelsenkirchener Musiktheater im Revier noch nie gefehlt. Wie nah die löbliche Ambition des engagierten Hauses bisweilen am Größenwahn vorbei schrammt, war am Sonntag bei einem Opernmarathon zu erleben, der Kondition erforderte. Denn nichts Geringeres als Hector Berlioz‘ mythische Doppel-Riesenoper „Les Troyens- Die Trojaner“ hatte man sich vorgenommen, ein Werk, vor dem selbst große Häuser in die Knie gehen. Lange Zeit galt Berlioz‘ Hauptwerk als unspielbar, das Interesse an der monströsen Doppel-Oper ist in den letzten Jahren jedoch stetig gestiegen.
Erst in der letzten Spielzeit holte die Rheinoper zum Doppelschlag aus und verteilte die ungleichen Teile auf ihre beiden Häuser in Düsseldorf und Duisburg. Der Vergleich mit dieser Produktion, die demnächst wieder in den Spielplan aufrückt, drängt sich zwar auf, macht aber schon ob der so gegensätzlichen Dimensionen der Häuser wenig Sinn.
Denn in Gelsenkirchen beschreitet man seit geraumer Zeit sehr eigene Wege, die Vergleiche erschweren. Der scheidende Intendant Peter Theiler hat seinen Spielplan konsequent mit Werken abseits des gängigen Repertoires bestückt und sowohl eine Lanze für vergessene Werke des italienischen Belcanto, als auch für sperrige Berlioz-Opern gebrochen. Mit „Les Troyens“ krönt er seine Amtszeit und erfüllt zugleich den Wunschtraum seines Generalmusikdirektors Samuel Bächli. Dennoch wären die „Trojaner“ aus eigener Kraft nicht zu stemmen gewesen. Die Opéra National du Rhin in Strassburg ist die Koproduktionspartnerin, die das Werk dort bereits im vergangenen Oktober zur Premiere brachte.
Regie führt der Gelsenkirchener Hausregisseur Andreas Baesler, der sich mit gewitzten und temporeichen Arbeiten bereits mehrfach empfohlen hat. Doch diesmal scheint ihm der Respekt vor der Großtat in die Glieder gefahren zu sein, denn er kommt über gediegenes, doch schlichtes Nacherzählen kaum hinaus. Eine Schwachstelle ist insbesondere die Chorregie, die allein wegen der Menge der Chorszenen besonders gefordert ist. Da herrscht überwiegend konventionelles Steh-Theater oder statische Symmetrie. Auch der Personenführung fehlt der beherzte Zugriff, ständig sich wiederholende Gesten verflachen die Figuren eher, als dass sie ihnen Tiefenschärfe verleihen. Obwohl Baesler im handlungsarmen zweiten Teil Ironie und Parodie- Elemente einflicht, hängen doch gerade die drei Karthago-Akte merklich durch.
Für subtile Farbgebung und fließende Eleganz dagegen sorgt Samuel Bächli im Graben, der der Versuchung, das Imperiale, ja Martialische dieser Partitur zu bedienen, konsequent aus dem Weg geht. Abgesehen von den total verunglückten Anfangstakten gelingt Bächli im Verein mit den Sängern ein ungewöhnlich transparenter, lyrischer Berlioz-Klang. Natürlich macht Bächli hier aus der Not eine Tugend, denn insbesondere die zentralen Frauenfiguren der Seherin Kassandra (Anna Agathonos) und der Königin Didon (Anke Sieloff) sind nicht mit den geforderten dramatischen Stimmen, sondern deutlich leichter besetzt. Beide Sängerinnen leisten trotz latenter Überforderung Erstaunliches, Christopher Lincoln dagegen zeigt echte Heldenqualitäten in der gefährlichen Partie des Enée. Die vielen weiteren Rollen sind überzeugend besetzt, allein das ist eine Leistung.
Bühnenbildner Hermann Feuchter siedelt den ersten Teil in der Zeit des Ersten Weltkriegs an, wo düsterer Bunkerraum als Spielort dient, der den Blick auf eine verwüstete Landschaft freigibt. Das tückische trojanische Pferd ist ein Panzer, und die Trojanerinnen entgehen ihrer Entehrung durch die griechischen Eroberer mittels kollektiven Gift-Selbstmords. Die drei Karthago-Akte spielen in der Zeit des Wirtschaftswunders in einem aseptischen, luftig hellen Ambiente. Abgesehen davon, dass Königin Didon Evita Perón verdächtig ähnlich sieht, rollt die Geschichte ihres Konflikts zwischen Liebe und Pflicht in rein privaten Dimensionen ab, die Politik spielt dabei keine Rolle. Damit fehlt dem Abend jedoch eine entscheidende Dimension. Dennoch großer Jubel hernach, der zurecht vor allem die Ausführenden feierte. Künftig sind beide Teile nur einzeln zu erleben.
Sa, 20.01., 19:30 UhrLes Troyens, Teil 1Infos: 0209-4097200