Geschichte, die noch qualmt

Einsichten nach 15 Jahren: Ein Berliner Podium pries die Öffnung der Stasiakten 1992 und zog eine weitgehend positive Zwischenbilanz der DDR-Vergangenheitsaufarbeitung

In der Kälte draußen erschallten „Macht das Tor auf!“-Chöre, Fäuste trommelten im Takt gegen die Fensterscheiben. Drinnen im Saal wurde der Hausherr Hans Ottomeyer, Leiter des Deutschen Historischen Museums in Berlin, in Sekundenschnelle nervös: Er rief ein paar Einsatzwagen der Polizei herbei, statt für Entspannung durch einen unbürokratischen, ausnahmsweise nicht brandschutzgerechten Nacheinlass zu sorgen. Marianne Birthler musste unter Einsatz ihres Amtscharismas als Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen die wütenden Zuspätkommer beruhigen.

Die Geschichte qualmt eben noch, wenn es um Stasiakten geht. Am Montagabend diskutierte man in Berlin unter großem Publikumsandrang und solchen rebellischen Reminiszenzen eine vergangenheitspolitische Erfolgsgeschichte: die Öffnung jener finsteren Hinterlassenschaft des DDR-Geheimdienstes im Jahr 1992. Marianne Birthler erinnerte an die revolutionären Ursprünge jener „historischen Sensation“, die die Archive der Überwacher den Überwachten zugänglich machte. Am 15. Januar 1990 hatten Demonstranten die Stasizentrale in der Berliner Normannenstraße besetzt und die Vernichtung der Akten dort und in anderen Städten verhindert. Heftig waren die Auseinandersetzungen um die Dokumente der Diktatur, bis im Januar 1992 einstige Dissidenten in den Spitzelberichten blättern konnten und mit schmerzlichen Wahrheiten über falsche Freunde konfrontiert wurden. „Die Stasi ist mein Eckermann“, sang Wolf Biermann hellseherisch 1967 – auf 100.000 Aktenseiten, wie der heute verhinderte Berliner Ehrenbürger 1992 erfuhr.

Wer einmal in die Akten geschaut habe, könne die Rede vom „ganz normalen Geheimdienst MfS“ leicht als Unsinn enttarnen, meinte Rainer Eppelmann, einst Schlüsselfigur der oppositionellen Szene in der DDR und heute Leiter der „Stiftung Aufarbeitung“. Die Standardausrede für die Stasizusammenarbeit „Ich habe niemandem geschadet“, vorgebracht unter anderem vom ehemaligen Ministerpräsidenten Stolpe oder dem Warschauer Erzbischof Wielgus, sei ein Trugbild: Niemand habe wissen können, wie der Geheimdienst scheinbar harmlose Informationen für Zersetzung und Erpressung benutzen würde. Sichtlich bewegt erzählte Biermanns Exfrau, die Schauspielerin Eva-Maria Hagen, von ihrem Mitleid mit auf sie angesetzten IMs, die sich ihr gegenüber nicht zu einem späten Bekenntnis durchringen konnten.

Einig war man sich an diesem emotionalen Abend über die historischen Verdienste jenes Aufarbeitungsprozesses. Ein vergangenheitspolitischer „soft way“ wie in Deutschland nach 1945 oder in den anderen ostmitteleuropäischen Ländern sei erfolgreich verhindert worden. Das vom Bundestag verabschiedete „Informationsfreiheitsgesetz“, das den Bürgern Zugang zu den von staatlichen Stellen über sie gesammelten Informationen ermögliche, wäre ohne die Erfahrungen mit der archivalischen Hinterlassenschaft der DDR nicht denkbar. Der Journalist Roland Jahn, früher Oppositioneller in Jena, verwies auf den Stolz und die Genugtuung, den die Stasiakten jenseits aller menschlichen Abgründe ebenfalls bieten: unzählige Geschichten von mutiger Verweigerung, Widerstand und von mitmenschlichem Verhalten im DDR-Alltag, auch ein Stück deutscher Freiheitsgeschichte. Jenseits öffentlicher Fixierung auf Skandale ermöglichen die Akten vielfach eine private Wiederaneignung gestohlenen Lebens.

„Solange wie die Diktatur währte, werden wir uns mit ihr herumschlagen“, prophezeite Joachim Gauck, Birthlers Amtsvorgänger. Vergangenheitsaufarbeitung unterliege nun einmal Konjunkturen. „Dumm sein und Arbeit haben, das ist das Glück“: Gottfried Benns Diagnose bewahrheite sich leider allzu oft, worüber er heute zorniger sein könne als in seiner Amtszeit. Damals zwang er sich zu professionellem Umgang und erlernte rasch die kühlen Prinzipien des Rechtsstaats. Glücklicherweise habe sich trotz allem eine weitverbreitete Schlussstrichmentalität nicht durchsetzen können. Auch wenn in Gaucks Wort von der „Katharsis einer Nation“ die therapeutische Utopie eines protestantischen Pfarrers allzu deutlich mitschwang: Jene öffentliche und individuelle Erinnerung an Leid und Würde der Opfer, die erst durch die Akten möglich wird, bleibt eine emanzipatorische Notwendigkeit für die nächsten Jahrzehnte.

ALEXANDER CAMMANN

Eine Aufzeichnung der Diskussion wird am Sonntag um 17 Uhr auf Phoenix ausgestrahlt. Die Broschüre mit Chronik und Erlebnisberichten ist gegen Schutzgebühr unter www.bstu.de zu bestellen